Lobbyisten in Politik und Wirtschaft rütteln an Arbeitsschutz in der Fleischindustrie
02.06.2021 I Brasiliens Fleischindustrie will mithilfe der Regierung von Jair Bolsonaro den Arbeitsschutz der etwa 538.000 Angestellten auf Schlachthöfen senken. Gewerkschaften befürchten eine Zunahme schwerer Verletzungen am Arbeitsplatz. Wie in Deutschland waren Schlachthäuser lange Zeit Treiber der Corona-Pandemie.
Ein Text unserer Partnerorganisation Réporter Brasil
Inmitten der Corona-Pandemie mit bereits 460.000 Toten (Stand 30.5.2021) drängt Brasiliens Fleischindustrie darauf, den Arbeitsschutz auf Schlachthöfen erheblich zu schwächen. Ihrer Lobby ist es gelungen, zwei Gesetzesänderungen anzustoßen, die die Gesundheit der landesweit rund 538.000 Arbeiter_innen von Schlachtbetrieben gefährden, wie Gewerkschaften und Vertreter_innen der Staatsanwaltschaft für Arbeitsrecht (Ministério Público do Trabalho, MPT) befürchten.
Zusammen mit der Regierung des Präsidenten Jair Bolsonaro und dem Arbeitgeberflügel im Parlament arbeitet die Lobby der Fleischindustrie derzeit daran, die Regelung der Pausen- und Arbeitszeiten in Kühlhäusern auszudünnen. Sollte sie Erfolg haben, müssten Arbeiter_innen in Fleisch verarbeitenden Betrieben länger und unter gefährlicheren Bedingungen arbeiten. Die aktuelle Regelung, Artikel 253 des Arbeitsrechts (CLT), sieht für Tätigkeiten in gekühlten Räumen Pausen von 20 Minuten nach jeweils einer Stunde und 40 Minuten vor, um die sogenannte "thermische Erholung" des Körpers zu ermöglichen. Nun haben arbeitgebernahe Abgeordnete einen Gesetzesentwurf (PL 2.363/2011) ins Parlament eingebracht, wonach Arbeitspausen ausschließlich für jene Mitarbeiter_innen gelten, die bei einer Temperatur unter 4°C arbeiten oder Lasten zwischen Umgebungen mit großen Temperaturunterschieden bewegen. Tatsächlich sind aber nur fünf Prozent der Belgeschaften unter diesen besonders strapazierenden Arbeitsbedingungen tätig, kritisiert die Staatsanwaltschaft für Arbeitsrecht. "Nach der neuen Regelung würden etwa 95 Prozent der Arbeiter_innen auf Schlachthöfen ihr Anrecht auf die thermische Erholung verlieren und in ihrem Grundrecht auf Gesundheit beschnitten", heißt es in einer Stellungnahme der MPT, die sich gegen die geplante Gesetzesänderung ausgesprochen hat.

Die Arbeit bei 4°C macht regelmäßige Pausen notwendig. Fleischindustrie und Regierung wollen den aktuellen Arbeistschutz aufbrechen.
Zudem rüttelt die Fleisch-Lobby an den festen Pausenzeiten ihrer Arbeiter_innen. Die betreffende Richtlinie Nr. 36 schreibt aktuell eine zehnminütige Pause pro Stunde für die Arbeit in Schlachtbetrieben vor. Dadurch sollen Unfälle vermieden und Berufskrankheiten verringert werden. Doch Ende 2020 eröffnete die Regierung ein Anhörungsverfahren, um Vorschläge für eine Lockerung dieser Richtlinie zu sammeln. Die Novelle sollte bis Mitte dieses Jahres vorliegen und könnte aus Gewerkschaftssicht zu einer Zunahme von Unfällen führen. "Sollte der Pausenschutz ausgehöhlt werden, wird die Zahl der Verletzungen und Verstümmelungen bei den Angestellten mit Sicherheit steigen", befürchtet Célio Elias, Vorsitzender der gewerkschaftlichen Vereinigung der Arbeiter_innen in der Lebensmittelindustrie des Bundesstaates Santa Catarina, einem Zentrum der Geflügelindustrie.
Spitzenreiter bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten
Generell gilt die Arbeit in Fleisch verarbeitenden Betrieben als körperlich äußerst zehrend. Niedrige Temperaturen, intensive und sich wiederholende Arbeitsschritte sowie der Kontakt mit Messern, Sägen und anderen scharfen Werkzeugen setzen die Arbeiter_innen täglich der Gefahr von Unfällen und Berufskrankheiten wie Sehnenentzündungen und Rückenschmerzen aus. Im Jahr 2019 erreichte die Zahl der Arbeitsunfälle in den Hähnchen-, Rinder- und Schweineschlachtanlagen landesweit fast 23.000 – das waren durchschnittlich 62 pro Tag.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Fleischindustrie zu den zehn Wirtschaftssektoren gehört, auf die zwischen 2012 und 2018 die meisten Leistungen aus der gesetzlichen Unfall- und Pflegeversicherung entfiel. Für keinen industriellen Bereich musste das Nationale Sozialversicherungsinstitut (Instituto Nacional do Seguro Social, INSS) vergleichbar hohe Raten an Krankengeld oder Erwerbsunfähigkeitsrente zahlen. Mehr als 31.000 Mal kam das INSS in diesem Zeitraum für gesundheitliche Schäden auf, die nachweislich mit der Arbeit auf den Schlachthöfen in Zusammenhang standen. Die Zahl der Krankheits- und Pflegefälle, die indirekt auf die Arbeit in den Anlagen zurückgehen, überstieg in diesem Zeitraum 145.000.
Daher betrachtet auch die Staatsanwaltschaft die Eingriffe in den Arbeitsschutz mit Sorge. "Es gibt Studien, die weisen darauf hin, dass kontinuierliches Arbeiten in einer kalten Umgebung die Muskeln und das Nervensystem angreift", erklärt Lincoln Cordeiro, Staatsanwalt der MPT. Zudem führe die Arbeit bei niedrigen Temperaturen zu Entzündungen der Luftwege und verschlechtere die Atemfunktion, so der Staatsanwalt.
Wirtschaftsministerium und Lobby im selben Wortlaut
Die nun geplanten Lockerungen des Arbeitsschutzes reihen sich ein in eine Liste von Deregulierungen der Arbeitswelt unter der marktradikalen Regierung Bolsonaro. Auf Nachfrage des Rechercheportals Reporter Brasil begründeten sowohl das Wirtschaftsministerium als auch der brasilianische Verband der Hühner- und Schweinefleischindustrie (Associação Brasileira de Proteína Animal, ABPA) die geplanten Gesetzesänderungen im selben Wortlaut: "vereinfachen, harmonisieren und entbürokratisieren". Das Wirtschaftsministerium teilte zudem mit, dass "die Richtlinie 36 zweifellos ein Meilenstein für den Schutz der Arbeiter in den Fleischbetrieben ist und in den letzten Jahren maßgeblich zur Verbesserung von Sicherheit und gesundheitlichem Schutz beitrug". Nichtdestotrotz sei stets nach Verbesserungen zu suchen, so das Ministerium weiter.
Die ABPA ihrerseits erklärte, dass die Überarbeitung der Richtlinie 36 "aufgrund des technologischen Fortschritts in der Produktion" notwendig sei. Das Arbeitsrecht (CLT) sei mehr als 75 Jahre alt und entspreche nicht mehr der heutigen Realität. Die ABPA bekräftigte zudem, dass die in der CLT vorgesehenen thermischen Erholungspausen als "streng" einzustufen seien - sie finden notwendigerweise dreimal täglich für 20 Minuten statt - und erforderten, dass die Angestellten "die Umgebung des Arbeitsplatzes" verlassen. In seiner Stellungnahme bekräftigte der Verband, dass die Arbeiter_innen zwar weiterhin "flexible" Pausen von insgesamt 60 Minuten pro Tag haben werden. In Zukunft solle dies aber nicht mehr an die Bedingung geknüpft sein, die unnatürlich kalte Arbeitsumgebung zu verlassen.
Angriff auf Gesundheitsschutz in Zeiten der Pandemie
Aufgrund fehlenden Schutzes am Arbeitsplatz entwickelten sich Brasiliens Schlachthöfe ähnlich wie in Deutschland zu Hotspots der Corona-Pandemie. Eine Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada, Ipea) zeigt, dass der Sektor einer der Haupttreiber für die Verbreitung des Coronavirus in mittelgroßen Städten und Dörfern Brasiliens war. So auch im Fall von São Miguel do Guaporé mit seinen 25.000 Einwohner_innen, wo die Ansteckungen infolge eines Corona-Ausbruchs in einem Schlachtbetrieb an einem Tag um 80 Prozent hochschnellten. Im März 2021 verurteilte ein Gericht das verantwortliche Unternehmen JBS - der weltgrößte Hersteller von tierischem Eiweiß zu einer Entschädigungszahlung von 20 Millionen Reais, etwa drei Mio. Euro, weil sich 60 Prozent der Angestellten seines Schlachthofs mit dem Covid-19-Virus angesteckt hatten. Die Richter_innen begründeten ihre Entscheidung damit, dass das Unternehmen die Arbeiter_innen der Infektionsgefahr ausgesetzt hätte, ohne die entsprechenden Abstandsregeln einzuhalten und individuelle Schutzausrüstung bereitzustellen.
Bei ähnlichen Vorfällen hatte die Staatsanwaltschaft im letzten Jahr vor Gericht in fünf Fällen die Stilllegung, einmal die vorübergehende Schließung und in vier Fällen die Verbesserung des Infektionsschutzes von Schlachthöfen erwirkt. Gerade vor dem Hintergrund der Pandemie sind die geplanten Eingriffe in das Arbeitsrecht aus Sicht der Staatsanwaltschaft nicht zulässig. „Es ist unfassbar, dass die Arbeiter_innen der Fleischindustrie gerade in der Corona-Krise jeglichen Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz verlieren könnten. Und dies, obwohl sie noch vor Kurzem als unverzichtbar eingestuft wurden, damit sie ohne Corona bedingte Einschränkungen arbeiten und die Bevölkerung versorgen konnten", erklärt Lincoln Cordeiro (MPT).
Fleischproduktion als Ursache der Rodungen im Amazonas
Die geplanten Änderungen für Schlachtbetriebe kommen zu einer Zeit, in der Brasiliens Fleischexporte weltweit unter öffentlichem Druck stehen. Vor allem in Europa werden sie mit der Zerstörung von Urwäldern in Verbindung gebracht, da unter der Regierung von Jair Bolsonaro die Anzahl der illegalen Rodungen in sensiblen Naturräumen explodiert ist. Allein im Amazonasgebiet wurden im vergangenen Jahr 8.000 Quadratkilometer Wald abgeholzt, eine Fläche, die 2,2 Mal der Fläche Mallorcas entspricht. Das ist der höchste Wert in den letzten zehn Jahren und stellt einen beunruhigenden Anstieg von 30 Prozent gegenüber dem Jahr 2019 dar, stellte die Umweltorganisation Imazon (Instituto do Homem e Meio Ambiente da Amazônia) anhand von Satellitenbildern fest. Umweltschützer_innen sehen die Viehzucht als Haupttreiber dieser Verwüstung. Staatsanwalt Cordeiro appelliert deshalb: "Wie beim Umweltschutz dürfen wir im Bereich der Arbeit keine Rückschläge hinnehmen".
Noch lassen die Umweltbedenken europäische Politiker_innen, die Ratifizierung des Handelsabkommens zwischen dem südamerikanischen Binnenmarkt Mercosur und der Europäischen Union hinauszuzögern. Doch wenn das Abkommen in Kraft tritt, wird es den brasilianischen Fleischabsatz erheblich steigern. Als weltweiter Marktführer bei Rind- und Hühnerfleisch-Exporten brach Brasilien im Jahr 2020 mit einem Umsatz von 17 Milliarden US-Dollar neue Rekorde.
Autor: Carlos Juliano Barros, Repórter Brasil
Übersetzung/Redaktion Mai 2021: Mario Schenk
Hinweis: Es handelt sich um eine kontextualisierte Übersetzung mit zusätzlichen, erklärenden Informationen. Der Originaltext erschien am 12.04.2021.
Diese Reportage wurde mit Unterstützung des DGB-Bildungswerk BUND im Rahmen des Projekts, Gewerkschaften in Lateinamerika stärken – Ungleichheit bekämpfen, produziert und aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert. Für den Inhalt der Reportage ist ausschließlich Repórter Brasil verantwortlich.
Übersetzung und Redaktion wurden gefördert von Engagement Global mit Mitteln des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.