Gewerkschaften und Demokratisierung Algerien - Zwischen Regimetreue und Protesten
Mitten in der Krise kämpft die Basis in der algerischen UGTA darum, die Gewerkschaft vom verhassten Regime zu emanzipieren und sie als Instrument ihrer Interessenvertretung wieder zu gewinnen.
Der Tag der Arbeit war symptomatisch für die Proteste. Bei den zentralen Kundgebungen in Algier ließen die Arbeiter_innen und Angestellten keinen Zweifel daran, was sie vom Vorsitzenden der Generalunion der algerischen Arbeiter (UGTA) halten. »Sidi Said, Mitglied der Mafia!« hieß es auf Spruchbändern. Abdelmadjid Sidi Said ist für sie »Regime« und damit genauso verhasst wie der langjährige Präsident Abdelaziz Bouteflika. Dieser war 20 Jahre im Amt; und obwohl er sich von einem Schlaganfall 2013 nie wieder völlig erholt hatte, hatte er seine Pläne, erneut für das Amt des Staatschefs zu kandidieren, erst nach wochenlangen Protesten der Bevölkerung aufgegeben. Die Neuwahl wurde aber auf unbestimmte Zeit verschoben. UGTA-Generalsekretär Sidi Said übertrifft Bouteflika noch an Amtsjahren: Er wurde 1997 an die Gewerkschaftsspitze gewählt.
Auch nach Bouteflikas Rücktritt im April rissen die Proteste nicht ab. Jetzt geht es um einen »Regimewechsel«, um »das Ende der ganzen Bande«. Und Sidi Said gehört für die Demonstrierenden dazu. Die UGTA zog unter dem Druck der Straße den Gewerkschaftstag vom Januar 2020 auf Ende Juni 2019 vor. »Ich werde nicht erneut für den Vorsitz der UGTA kandieren«, kündigte Sidi Said an.
Die UGTA war 1956 während des Algerienkrieges gegen die Kolonialherrschaft Frankreichs als Einheitsgewerkschaft gegründet worden. Anders als im benachbarten Tunesien, wo die dortige Generalunion der tunesischen Arbeiter (UGTT) die ganzen Jahre des autoritären Regimes unter Zine el-Abidine Ben Ali eine kritische Distanz zur Regierung wahrte und 2011 gar den jungen Menschen Schutz bot, die letztlich den Diktator zu Fall brachten, ist die UGTA völlig im Staatsapparat aufgegangen. Sidi Said gehörte schon bald zu den engsten Vertrauten des Präsidenten. Ende 2018 unterstützte er gemeinsam mit der gesamten UGTA-Führung eine fünfte Amtszeit Bouteflikas. Als im Februar 2019 jedoch die Proteste dagegen aufloderten, geriet die Gewerkschaft endgültig in Misskredit. Immer wieder kam es zu Protesten vor ihrer Zentrale in Algier. Am 4. April knüppelte die Polizei eine dieser Demonstrationen brutal zusammen.
»Befreit die UGTA« lautet deshalb einer der Sätze, die auf den Spruchbändern der allwöchentlichen Demonstrationen nicht fehlen dürfen. »Wir wollen die Gewerkschaft zurückgewinnen und in den Dienst der Arbeiter stellen. Seit Sidi Said ihr Vorsitzender ist, steht sie im Dienst der Arbeitgeber«, zitiert die algerische Agentur APS einen der Organisatoren der Proteste gegen die Gewerkschaftsspitze.
Zum Tag der Arbeit in Algier hatte vor allem der Bund unabhängiger Gewerkschaften (CSA) gerufen. Dieser bestimmt seit Jahren die Arbeitswelt in Bildung, Gesundheit und Verwaltung. Auch gekommen waren UGTA-Mitglieder aus den Regionen, die dem Apparat in Algier kritisch gegenüberstehen – beispielsweise die Berberregion Kabylei. In den wenigen Industriezweigen, die noch immer in der Hand der UGTA sind, wie etwa die Metallindustrie, wollen viele der Beschäftigten ebenfalls eine Reform der UGTA.
Sidi Said kam an die Gewerkschaftsspitze, als sein Vorgänger von Islamisten erschossen wurde. Es waren die Jahre des blutigen Krieges zwischen Armee und Islamisten, der insgesamt 200.000 Tote kostete. Der Staatsapparat schloss die Reihen, Sidi Said war dabei. Seitdem stand bei der Gewerkschaft der Soziale Frieden im Fokus. Der Weg dorthin waren nicht etwa gute Tarifverträge, sondern eine völlige Kontrolle der Arbeiterbewegung.
Längst gärt es an der Basis in vielen regionalen Gewerkschaftsgruppierungen. Proteste gegen die regionale Leitung und Basisversammlungen gehören inzwischen zum Alltag. Die Kritiker_innen der aktuellen Struktur fürchten, dass die zweite Reihe der Funktionär_innen versuchen könnte, Sidi Said zu beerben – und dass dann alles bleibt, wie es ist.
»Es reicht nicht, die Köpfe auszuwechseln«, warnt etwa der Generalsekretär der UGTA in der Provinz Alger, Amar Takjout. »Wir müssen die Fundamente zurückerobern.« Amar Takjout will eine weitreichende Änderung der Statuten, damit unter anderem die Amtszeit eines Generalsekretärs begrenzt wird. Den Kritiker_innen geht es darum, die UGTA von der Macht zu emanzipieren. Ob das gelingt und wie die neue Macht dann aussehen wird, muss die Zukunft zeigen.
Autor Reiner Wandler lebt als Auslandskorrespondent in Madrid.