Gewalt am Arbeitsplatz - Großer Sieg für Frauen
Lange haben die Gewerkschaften international für Standards gegen Gewalt und sexuelle Belästigung in der Arbeitswelt gekämpft. Seit Juni gibt es das Übereinkommen 190 und die dazugehörige Empfehlung R206 der Internationalen Arbeitsorganisation.
Ein Lebensmittelgeschäft in Sambia: Eine 25-jährige Aushilfskraft ist wiederholt der sexuellen Belästigung durch den Manager ausgesetzt. Er stellt ihr unangemessene Fragen, sagt ihr, dass er »Sex mit ihr« wolle. Als sie sich weigert, straft er sie mit schweren Arbeiten. Weder der zuständige Gewerkschaftsvertreter noch der Leiter der Personalabteilung ergreifen Maßnahmen – der Manager hat einen »Gott«-ähnlichen Status im Unternehmen. Es ist die junge Frau, die entlassen wird. Selbst ein Gerichtsverfahren endet mit einem Freispruch für den Manager. Erst als andere Arbeiterinnen berichten, auch von dem Mann belästigt worden zu sein, wird er entlassen.
Übergriffe wie dieser, der in einer Studie zu sexueller Gewalt am Arbeitsplatz dokumentiert ist, sind gemäß dem neuen Übereinkommen 190 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) eine Menschenrechtsverletzung. Das Übereinkommen, Ende Juni verabschiedet, zielt auf die »Beendigung von sexueller Belästigung und Gewalt in der Arbeitswelt«.
Die Freude und Erleichterung über das Abkommen ist in der internationalen Gewerkschaftsbewegung groß. »Dies ist zweifellos ein historischer Moment und ein großer Sieg für Frauen und für die Gleichberechtigung«, sagt Christy Hoffman, Generalsekretärin der UNI Global Union. Von einem Meilenstein spricht Christina Stockfisch vom DGB-Bundesvorstand, die in dem zuständigen ILO-Ausschuss mitgearbeitet hat. »Die #me too-Debatte hat gezeigt, wie nötig wir internationale Standards gegen sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz haben.«
Der Verabschiedung waren mehr als zehn Jahre Lobbyarbeit der Gewerkschaften und anderer Nichtregierungsorganisationen sowie drei Jahre Verhandlungen zwischen Arbeitnehmenden und -gebenden sowie Regierungen vorausgegangen. »Ohne das Engagement der internationalen Gewerkschaftsbewegung wäre dieses Abkommen nicht zustande gekommen«, betont Stockfisch.
Sexuelle Misshandlung oder Belästigung, Drohungen oder Stalking – die »Beendigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt« ist – statistisch betrachtet – ein mehr als ehrgeiziges Unterfangen. Weltweit haben den Vereinten Nationen zufolge 818 Millionen Frauen über 15 Jahre privat oder am Arbeitsplatz sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren. Das entspricht einem Anteil von 35 Prozent. Über ein Drittel der Länder haben keine Gesetze gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz; Schätzungen zufolge sind damit 235 Millionen Frauen ungeschützt. Der Anteil geschädigter Arbeitnehmerinnen reicht von 30 bis 40 Prozent wie in Japan, über 40 bis 50 Prozent wie in der EU bis hin zu noch bedrückenderen Szenarien wie in Uganda. Dort hat eine Umfrage in knapp 3.000 Organisationen ergeben, dass 90 Prozent der Arbeitnehmerinnen sexuell belästigt wurden.
Und nicht nur Frauen haben unter Übergriffen zu leiden, auch homo- und transsexuelle sowie intergeschlechtliche Arbeitnehmer_innen sehen sich laut Studien häufiger mit sexualisierter Gewalt konfrontiert.
Das ILO-Übereinkommen setze hier endlich Grenzen, sagt Stockfisch. »Es ist der erste internationale Standard in diesem Bereich überhaupt, liefert die erste weltweit gültige Definition von sexueller Belästigung und Gewalt, und es bezieht sich nicht auf den Arbeitsplatz allein, sondern auf die Arbeitswelt generell und entwickelt dadurch einen weit größeren Schutzbereich für die Arbeitnehmer_innen.«
Eine Studie der ILO zeigt, dass es Risikofaktoren gibt, die Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz begünstigen. So sind besonders Arbeitnehmerinnen in Bereichen mit Publikumsverkehr wie Gesundheit, Transport und Bildung gefährdet, ebenso wie solche, die in Privathaushalten, nachts oder in abgelegenen Gebieten ihrer Tätigkeit nachgehen.
Als besondere Errungenschaft sehen es Gewerkschafterinnen daher, dass das Übereinkommen die Betroffenen unabhängig von Vertragsstatus und Arbeitsstätte schützt. Damit kann sich die Managerin auf Dienstreise oder beim Mailverkehr ebenso auf das Übereinkommen berufen wie die Praktikantin im Büro oder die Putzkraft in einem Privathaushalt. Berücksichtigt wird auch Gewalt und Belästigung, die von Dritten ausgehen können, etwa durch Patienten im Krankenhaus oder Fahrgäste im Bus.
Und nicht nur die Gewalt allein im Job hat nach der neuen Definition Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Die ILO-Norm betont auch die Verantwortung des Arbeitgebers, die Arbeitnehmer_innen vor den psychischen und physischen Folgen häuslicher Gewalt zu schützen.
Doch wie kommen die Betroffenen zu ihrem Recht? Das Abkommen sieht Beschwerdemöglichkeiten, medizinische Versorgung, soziale Betreuung bis hin zu rechtlicher Hilfestellung vor. Doch damit ist es nicht getan. Letztlich gehe es darum, die gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber sexueller Belästigung und Gewalt zu ändern, sagt Shauna Olney, die bei ILO verantwortlich für Gender, Gleichberechtigung und Diversität ist. »Wir müssen die zugrundeliegenden Ursachen angehen, einschließlich multipler und sich überschneidender Formen von Diskriminierung, Geschlechterstereotypen und ungleichen geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen.« Hier setzen das Übereinkommen und seine Umsetzungsempfehlung auf Risikobewertungen am Arbeitsplatz, Schulungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen.
Wie wichtig diese sind, zeigt ein Beispiel aus Großbritannien. Dort hatte die Gewerkschaft Usdaw eine Kampagne für mehr Sicherheit von Arbeitnehmerinnen im Einzelhandel gestartet. Im Fokus standen vor allem Frauen, die sehr früh oder spät nachts arbeiten mussten. In einem Fall konnte die weibliche Belegschaft den Manager überzeugen, selbst einmal nachts die Route zum örtlichen Bahnhof abzugehen, die die Frauen nach der Spätschicht nehmen müssen. Die betroffenen Frauen durften fortan auf Wunsch ihre Schicht tauschen.
Bis das ILO-Übereinkommen 190 jedoch zu einer weltweiten Verbesserung der Arbeitsbedingungen beiträgt, müssen es die unterzeichnenden Staaten zuerst in nationales Recht übernehmen. Zumindest der deutsche Arbeitsminister hat bereits »eine schnelle Ratifizierung« in Aussicht gestellt. Noch im Oktober soll auf ILO-Ebene die deutsche Sprachfassung für das Übereinkommen und die Umsetzungsempfehlung abgestimmt werden. Danach kann das deutsche Ratifikationsverfahren beginnen. »Wir Gewerkschaften müssen jetzt weiter dran bleiben, damit auch wirklich etwas passiert«, sagt DGB-Expertin Stockfisch.
Autorin: Uta von Schrenk ist freie Journalistin in Berlin und beschäftigt sich seit Jahren mit gewerkschaftlichen Themen
September 2019