Generation Coronakrise: >>Wir müssen neue Lösungen finden.<<
Die Coronapandemie hat einen akuten Unterrichtsnotstand ausgelöst. Aber die Bildungskrise ist nicht neu. Damit Heranwachsenden im Globalen Süden nicht das totale Bildungsaus droht, ist nicht nur viel Geld vonnöten, vielerorts müssen auch andere Zugänge geschaffen werden.
Mathematik, Naturwissenschaften und das Fach Englisch: Kurz nachdem die Schulen im Süd-Sudan im Frühjahr 2020 wegen der Coronakrise schließen mussten, startete der örtliche Radiosender Miraya Bildungsprogramme für Kinder und Jugendliche. Auch in anderen afrikanischen Ländern wie Ruanda oder Somalia wurden Heranwachsende wenigstens einige Stunden am Tag über das Radio unterrichtet. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Unicef, stellte kurzfristig 144 Manuskripte aus aller Welt für den Fernunterricht in Ruanda bereit. Gemeinsam mit Partnern verteilte es Radios, um Schüler_innen das Lernen während der Pandemie zu ermöglichen.
Zu den Hochzeiten der Pandemie seien bis zu 1,6 Milliarden Heranwachsende in 190 Ländern mit geschlossenen Schulen konfrontiert gewesen, sagt Christine Kahmann von Unicef Deutschland. Davon habe ein Drittel der Kinder keinen Zugang zu alternativen Bildungsangeboten wie Digitalunterricht gehabt. »Überall, wo Kinder und Jugendliche vor der Pandemie schlechte Chancen hatten, droht sich ihre Lage zu verschärfen«, so Kahmann. Die Pandemie trifft Heranwachsende auf der ganzen Welt – aber unterschiedlich. »In den Industrieländern drohen soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten zu wachsen, etwa weil Familienmitglieder Jobs verloren haben.« Im Globalen Süden haben die sozialen Folgen der Pandemie eine größere Wucht. Vor allem für Kinder und Jugendliche in Kriegs- und Katastrophengebieten ist die Lage sehr prekär.
Fatal: Der durch Corona ausgelöste akute Unterrichtsnotstand trifft auf eine bereits bestehende Bildungskrise und weitet sie aus. 258 Millionen Kinder und Jugendliche konnten schon vorher nicht zur Schule gehen. »Durch die Pandemie könnte weltweit weiteren 24 Millionen Heranwachsenden dauerhaft der Zugang zu Bildung verwehrt werden«, warnt Kahmann. Gerade in ländlichen Regionen im Globalen Süden fehlen Schulen und Lehrer_innen oder Klassen sind überfüllt. Während es in den Industrieländern darum geht, dass Kinder und Jugendliche Lernrückstände aufholen, droht Altersgenoss_innen im Globalen Süden das komplette Bildungsaus. Vor allem Heranwachsende südlich der Sahara und in Südostasien sind davon betroffen. »Aus vorhergehenden Krisen wissen wir: Je länger die Schulen geschlossen sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder nicht zurückkehren«, sagt Kahmann.
In manchen Ländern sind Bildungseinrichtungen über ein Jahr geschlossen, etwa in Panama, Bangladesch oder Bolivien. Dabei sind Schulen mehr als ein Ort zum Lernen. Sie sind auch ein Ort des Schutzes vor Ausbeutung und Gewalt – und einer der Versorgung. Infolge der Pandemie erhielten schätzungsweise 370 Millionen Heranwachsende zeitweise kein Schulessen, was Hunger und Mangelernährung zur Folge hat.
Die Konsequenzen der Covid-19-Krise sind so dramatisch: Wachsende Armut führt zu mehr Kinderarbeit, weil Söhne und Töchter zum Familieneinkommen beitragen müssen. Die fehlende Wissensaneignung für Heranwachsende verringert ihre Chance, Fähigkeiten für die spätere Sicherung des Lebensunterhalts zu erwerben. »Erfahrungen zeigen, dass in Krisen besonders die Bildung von Mädchen gefährdet ist«, berichtet Kahmann. Mädchen drohen in etlichen Ländern Frühehen und frühe Schwangerschaften. Auch die Rekrutierung von Kindersoldaten nimmt in Krisenzeiten zu. »Kinder erhalten kleine Beträge, mit denen sie ihre Familien unterstützen möchten.«
Vor allem in den ärmsten Ländern wächst die Finanzierungslücke im Bildungsbereich weiter, warnt auch die UN-Bildungsorganisation Unesco. Weltweit hätten bereits vor der Pandemie nur 88 Prozent der Kinder die Schule abgeschlossen und nur 72 Prozent der Heranwachsenden die untere Sekundarstufe. Fast jedes sechste Kind wird nie eine Schule besuchen, darunter mehr Mädchen als Jungen. »Für Afrika gilt: Die Bevölkerung wächst, das Bildungsangebot stagniert«, sagt Walter Hirche, Vorstandsmitglied der Deutschen Unesco-Kommission. Dabei gibt es einen direkten Zusammenhang. Nach einer Studie der Weltbank haben in Ghana, Eritrea, Äthiopien und Nigeria Frauen ohne Schulbildung im Schnitt sechs Kinder, mit Schulbildung sind es zwei bis drei.
Auch wenn in den Industriestaaten die Coronakrise die Chancen der Heranwachsenden auf Wissenserwerb stark belastet, sind die Bildungssysteme hier fest etabliert und haben einen hohen Stellenwert – was im Globalen Süden anders ist. »In den Industrieländern muss der Lernrückstand aufgeholt werden, dort müssen Schulen erst geschaffen werden«, sagt Hirche. Der Bedarf an Lehrer_innen ist enorm. »Bis 2030 werden weltweit mehr als 69 Millionen neue Lehrkräfte benötigt.«
Aber das Geld ist knapp. Nach Berechnungen der Unesco und der Weltbank gibt es jährlich eine Finanzierungslücke für Bildung von weltweit 148 Milliarden US-Dollar. Aufgrund von Corona wird sie voraussichtlich um ein Drittel wachsen. Denn durch die Pandemie geraten die Staatshaushalte unter Druck. Die Unesco fürchtet, dass Länder mit ohnehin kleinen Etats für Bildung künftig noch weniger Geld für die Erziehung und Wissensvermittlung von Kindern und Jugendlichen bereitstellen. Gleichzeitig werden die internationalen Hilfen drastisch sinken, weil die Geberländer unter wirtschaftlichen Schwierigkeiten leiden, fürchtet Hirche. »Aber nur mit Bildung können wir die Folgen der Gesundheitskrise in den Griff bekommen«, sagt er. Denn Wissen – das hat etwa der Ebolaausbruch gezeigt – bestimmt, wie Menschen mit ansteckenden Krankheiten umgehen.
Wichtig ist, eine langfristige Finanzierung von Bildung zu gewährleisten, sagt Hirche. Das Problem: Anders als etwa bei Investitionen in Infrastruktur zeigen sich die Erfolge erst nach fünf bis zehn Jahren. »Wir brauchen ein Programm für eine stetige Entwicklung«, fordert er. Weltweit fließen nach Berechnungen der Unesco weniger als ein Prozent der Coronahilfen in die Bildung. Vielerorts wäre es bereits ein Erfolg, wenn dieser Status quo erhalten bleiben würde, ist Hirche überzeugt. »Wir brauchen aber eine deutliche Erhöhung.« Der Anteil für Bildung an der weltweiten Entwicklungshilfe müsse stufenweise über zwei auf fünf Prozent erhöht werden.
Bei der Lösung der akuten und chronischen Bildungskrise geht es nicht nur um mehr Geld, betont Unicef-Sprecherin Kahmann. »Wir müssen größer und anders denken, um neue Lösungen zu finden, die großflächig etwas verändern.« Ein wichtiger Ansatz dabei ist die Digitalisierung. Gerade in ländlichen Gebieten muss Kindern und Jugendlichen überhaupt erst der Zugang zum Internet und damit zu digitalen Lernplattformen verschafft werden. Die UN hat das Ziel gesteckt, dass bis 2030 alle Kinder und Jugendliche eine Grund- und Sekundarschulbildung erhalten. Durch die Pandemie ist viel Erreichtes verloren gegangen. »Wir können das Ziel immer noch schaffen«, sagt Kahmann. »Aber die Weichen dafür müssen jetzt gestellt werden.«
Autorin: Anja Krüger lebt als Journalistin in Berlin und beschäftigt sich viel mit Gewerkschaftspolitik.
März/2021