Gewerkschaften und Demokratisierung Sudan - Beispielhaft für Afrika
Sudans Protestbewegung bezieht ihre Stärke auch aus der alten gewerkschaftlichen Tradition des Landes.
Sudan wird gemeinhin mit Hungersnöten, Flüchtlingsströmen, dramatischen Bürgerkriegen und brutaler Militärherrschaft in Verbindung gebracht. Doch im April 2019 stürzte ein Volksaufstand nach fast vier Monaten regelmäßiger Demonstrationen den langjährigen Militärdiktator Omar Hassan al-Bashir, und damit gewann ein anderer Sudan Sympathie: ein Land der aktiven Zivilgesellschaft, der selbstbewussten Frauen und der mutigen Protestbewegungen, die sich von politischen Parteien und Rebellenbewegungen bewusst fernhalten und sich um Berufsverbände und Gewerkschaften herum organisiert haben.
Wichtigster Träger der Massendemonstrationen, die das Bashir-Regime zu Fall brachten und auch danach zwei Monate lang mit einem Dauerprotest vor dem Militärhauptquartier in Khartum ein ziviles Regime einforderten, war die Sudanese Professionals Association (SPA). Das ist ein im Juni 2018 gegründeter Dachverband der unabhängigen Berufsverbände Sudans. Die Initiative dazu, erklärt die SPA auf ihrer Webseite, ging zwei Jahre vorher von Ärzte-, Journalisten- und Anwaltsverbänden aus; danach schlossen sich Universitätsangestellte und -professor_innen, Ingenieur_innen, Apotheker_innen, Tierärzt_innen und diverse andere Fachverbände an.
Das ist bemerkenswert in einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft leben – teils unter dem Existenzminimum. Die Minderheit mit Berufsausbildung kommt vor allem im Staatsdienst unter und findet ansonsten nur schwer eine reguläre bezahlte Arbeit. In den letzten Jahren hat Sudans Wirtschaftskrise, hervorgerufen vor allem von der Korruption und der Misswirtschaft des Bashir-Regimes, zehntausende dieser raren Arbeitsplätze vernichtet. Ähnlich wie in anderen vom Militär dominierten Autokratien wie Pakistan, Türkei oder Ägypten sah auch im Sudan das Bashir-Regime nicht zu Unrecht in den städtischen »professional classes« ihren gefährlichsten Gegner in Zeiten der Wirtschaftskrise.
Der Protestwelle ab Ende 2018, die von einer Verdreifachung der Brotpreise bei dem gleichzeitigen weitgehenden Zusammenbruch des Bankensektors ausgelöst wurde, konnte das Regime nicht Herr werden. Die Berufsverbände und Gewerkschaften schafften es, weit über ihre eigene Mitgliedschaft hinaus zu mobilisieren, von den Slums von Khartum bis zu den Vertriebenensiedlungen von Darfur. Sie überzeugten die Menschen mit einfachen Forderungen: ein Ende der Bashir-Herrschaft, die Einsetzung einer Übergangsregierung aus Technokraten für die Dauer von vier Jahren, während dieser Zeit die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung zur Überwindung der militarisierten Einparteienstuktur des sudanesischen Staates und dann freie Wahlen. Sie vermieden es, sich der Agenda einer politischen Partei oder einer bekannten Führungsfigur unterzuordnen.
Bezeichnenderweise begannen die Proteste am 19. Dezember 2018 in Atbara, einem Ursprungsort der sudanesischen Gewerkschaftsbewegung. Atbara ist ein zentraler Verkehrsknotenpunkt Sudans. Hier trifft die Eisenbahnlinie, die vom Hafen Port Sudan am Roten Meer ins Landesinnere führt und eine Lebensader der sudanesischen Wirtschaft darstellt, auf den Nil. Mit seinen Zementwerken war Atbara Sudans wichtigste Industriestadt während der Kolonialzeit.
Sudans Eisenbahner gründeten im Jahr 1947 die erste Gewerkschaft Subsahara-Afrikas außerhalb von Südafrika – die Workers Affairs Association (WAA), die mit einem einmonatigen Streik die britischen Kolonialbehörden zur Ausarbeitung einer Arbeitsgesetzgebung und der Anerkennung einheimischer Gewerkschaften zwang. Innerhalb weniger Jahre blühten danach unzählige Gewerkschaften auf, die sich 1950 im Dachverband SWTUF sammelten und zur Speerspitze des Kampfes gegen die Kolonialherrschaft wurden – das Land wurde 1956 unabhängig, früher als andere Länder Afrikas. Sudan war damals Vorreiter eines aufstrebenden postkolonialen Afrika, das sich auf dem Weg zur Industriegesellschaft wähnte.
Außerhalb Sudans ist dieses progressive Erbe längst vergessen. Aber in den Köpfen der Menschen im Sudan lebt es weiter. Die Gewerkschaften waren immer dabei, wenn sich Oppositionsbündnisse gegen die Bashir-Diktatur sammelten. Daran knüpfen jetzt auch die Protestierenden der Gegenwart an und sie schöpfen daraus eine Stärke und Beharrlichkeit, die erneut für Afrika beispielhaft ist. Egal wie der andauernde Machtkampf in Khartum ausgeht, und auch falls die Hardliner-Fraktion des Militärs sich dauerhaft durchsetzt und eine neue Diktatur errichtet – diese Opposition, die aus der Lebenserfahrung der Menschen entsteht, wird nicht so schnell von der Bildfläche verschwinden.
Autor Dominic Johnson ist Journalist und Afrika-Experte. Er recherchiert regelmäßig vor Ort.