Aus den Projekten: Schlüsselstelle Regionalkoordinatorin
20.6.2022 I Die globale Textilindustrie ist immer noch eine große Herausforderung für die Gewerkschaften. IndustriALL arbeitet seit Jahren auf unterschiedlichen Ebenen dazu. Ein Baustein ist die Vernetzung und persönliche Ansprache beteiligter Akteure.
Während die Covid-Pandemie in Deutschland derzeit beim Publikum vor allem die Frage aufwirft, ob Kund_innen im Supermarkt mit oder ohne Maske einkaufen, leiden die Arbeiter_innen in den Zentren der globalen Textilindustrie noch immer unter den Verwerfungen, zu denen die Lockdowns geführt haben. Nachdem die Bekleidungsmarken in den Industrieländern ganze Kollektionen stornierten, wurden Arbeiter_innen ohne Sozialversicherung massenhaft in die Armut entlassen. Die ökonomischen Auswirkungen der Covid-Pandemie in Ländern wie Bangladesch, Indien, Kambodscha oder Malaysia haben die Schwächen der textilen Lieferketten hell ausgeleuchtet.
Um Textilarbeiter_innen endlich grundlegende Arbeitnehmer_innenrechte - Arbeitslosenversicherungen, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Sozialversicherungen und Abfindungen im Kündigungsfall – zu sichern, setzen die internationale Industriegewerkschaft IndustriALL und das DGB Bildungswerk Bund darauf, lokale Akteur_innen vor Ort zu stärken. Seit vier Jahren arbeitet eine Regionalkoordinatorin in ihrem Auftrag und im Rahmen der Partnerschaft zwischen DGB und Bundesentwicklungsministerium (BMZ) daran, einen regelmäßigen Informationsaustausch der regionalen Gewerkschaften zu gewährleisten, multinational aufgestellte wichtige Textilhersteller regional zu vernetzen und so die Rechte der Gewerkschaften zu schützen – sowie, falls nötig, solidarische Unterstützung zu mobilisieren.
»Ich bin der Meinung, dass wir stärkere Gewerkschaften aufbauen müssen, um gemeinsam für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu kämpfen«, sagt Goknur Mars, die diese Aufgaben übernommen hat. Bislang habe sie sich vor allem mit Gewerkschafter_innen der Mitgliedsorganisationen von IndustriALL im asiatisch-pazifischen Raum sowie mit Vertreter_innen globaler Marken vernetzt, berichtet die Regionalkoordinatorin, die von Istanbul aus arbeitet. Das seien insbesondere Mitarbeiter_innen der Firmen, mit denen IndustriALL ein Globales Rahmenabkommen (GFA) unterzeichnet hat, beispielsweise Tchibo, Esprit, Inditex, H&M und andere Mitglieder der ACT-Initiative – eine Vereinbarung zwischen globalen Marken und IndustriALL zur Förderung von Kollektivverhandlungen und Existenzlöhnen.
Konkret besteht die Arbeit von Mars aus »täglichen Diskussionen darüber, wie Streitbeilegungen organisiert, existenzsichernde Löhne garantiert oder junge und weibliche Arbeiter_innen gestärkt werden können«, wie die Koordinatorin zuspitzt. Dazu hat ihr Büro zu diesem Themen Informationsmaterialien erstellt und in verschiedene Regionalsprachen übersetzen lassen, beispielsweise zu Globalen Rahmenabkommen. Um Informationen bereit zu stellen, recherchierte sie etwa, wie Mindestlöhne in Vietnam und Bangladesch zustanden kommen, verglich die beiden Systeme und stellte diese Information dann den Mitgliedsunternehmen zur Verfügung. Mars unterstützte die IG Metall bei der Erstellung und Durchführung von Modulen für ein Organizer Development Projekt und ist an Trainings zu sexueller Belästigung im Rahmen der IndustriALL Kampagne zur Ratifizierung des ILO- Übereinkommens 190 beteiligt. Ein weiteres Beispiel für ihre Arbeit: Sie sammelte Informationen über die Fabrikationsanlagen des taiwanesischen Mischkonzerns Pou Chen, der unter anderem Schuhe produziert, und baute Kontakte zu dem Unternehmen auf.
Das Interesse an einer Zusammenarbeit ist seit Beginn ihrer Arbeit groß gewesen, berichtet Mars. Es sei hilfreich gewesen, dass sie auf verschiedenen Workshops von der IndustriALL-Direktorin für die Textil-, Bekleidungs- Schuh- und Lederindustrie Christina Hajagos-Clausen und von der Regionalsekretärin Annie Adviento mit Gewerkschafter_innen bekannt gemacht worden sei. »Wegen der persönlichen Kontakte konnte ich von Anfang an mit den richtigen Personen in den Mitgliedsorganisationen ins Gespräch kommen«, sagt Mars. Auch von Seiten der Markenvertreter habe es wenig Berührungsängste gegeben.
Vor der Covid-Pandemie war Mars für ihre Arbeit auch häufig in der Region selbst vor Ort. In Kambodscha, Indonesien, Myanmar, Thailand oder Vietnam arbeitete sie an der Gestaltung und dem Inhalt von Workshops und Schulungen mit und nahm als Referentin und Moderatorin teil. Die Pandemie habe die Arbeitsweise verändert und, wie an so vielen anderen Orten auch, wesentlich ins Netz verlagert. Die Schulungsmodule und Workshops für die Mitgliedsorganisationen seien online entwickelt worden, doch die persönliche Arbeit vor Ort ersetze das nicht vollständig, sagt Mars, »in mancher Hinsicht war es in dieser Zeit schwierig, Ergebnisse zu erzielen.« Wenn man Feldforschung betreibt, sei es doch besser, vor Ort zu sein oder die Mitgliedsorganisationen zu besuchen.
Die Autorin: Heike Holdinghausen lebt als Journalistin in Potsdam und beobachtet die Textilindustrie seit langem