
Systematische Ausbeutung in Lieferketten: Transparenz hilft allen
In den aktuellen Krisen geben die Konzerne den Druck weiter. Das verschärft die Probleme am unteren Ende der Wertschöpfungskette. Ein Gesetz zur Unternehmensverantwortung könnte helfen – aber auch gewerkschaftliche Kooperation entlang der Lieferketten.
Zwei Jahrzehnte konnte Kinderarbeit zurückgedrängt werden – doch jetzt fürchten die UN und Hilfsorganisationen, dass der Trend sich wieder umgedreht hat. Durch die Covid-19-Pandemie verlieren viele Eltern ihre Beschäftigung, Töchter und Söhne müssen verstärkt zum Familieneinkommen beitragen. Ein Grund: Konzerne wälzen die Folgen der Corona-Krise auf die schwächsten Glieder in der Lieferkette ab.
»Die Pandemie hat in vielen Ländern des Globalen Südens zu einer Hunger- und Armutskrise geführt«, sagt Franziska Korn, Referentin für Wirtschaft und Arbeitsrechte bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. »Sie verfestigt die globale Ungerechtigkeit.«
80 Prozent des weltweiten Handels wird über Lieferketten abgewickelt. Als Lieferungen in diesem Jahr wegen geschlossener Produktionsstätten oder Grenzen ausblieben, konnten viele Unternehmen deshalb zeitweise nicht produzieren, egal ob Chemiehersteller, Auto- oder Maschinenbauer. In der Diskussion um die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten, die sogenannte Resilienz, interessieren sich Wirtschaftsverbände vor allem dafür, dass die Firmen versorgt werden. Menschenrechtsaktivisten und Gewerkschafter dagegen machen sich mehr Gedanken um die Produzierenden am Anfang der Kette. »Betroffen sind alle Menschen, die in globalen Lieferketten ohnehin von prekären Arbeitsbedingungen betroffen sind«, sagt Korn.
Schon vor der Pandemie mussten viele Millionen Menschen unter extrem prekären Bedingungen arbeiten: Erntearbeiter_innen in Asien und Afrika ebenso wie entrechtete Arbeitsmigrant_innen auf Baustellen in Katar, Beschäftigte in der Textilproduktion in Bangladesch oder in der Autoindustrie in Osteuropa – all jene, die keine oder befristete Verträge haben, die als Leih- oder als Werkvertragsarbeitende tätig sind. Als etwa europäische Modehersteller wegen nicht verkaufter Ware Aufträge in Milliardenhöhe stornierten oder produzierte Kleider nicht abnahmen, verloren Textilarbeitende in Bangladesch ihr Einkommen.
Gewerkschaften, die für eine Kompensation sorgen könnten, haben es schwerer. Nach einer Erhebung des Internationalen Gewerkschaftsbunds werden Arbeitsrechte weltweit so stark eingeschränkt wie zuletzt 2013. In 85 Prozent von 144 Ländern wird das Streikrecht, in 80 Prozent das Tarifrecht beschnitten. Besonders dramatisch ist die Situation in Ägypten, Bangladesch, Brasilien, Honduras, Indien, Kasachstan, Kolumbien, den Philippinen, der Türkei und Simbabwe. »Die Verfolgung nimmt in den Ländern zu, in denen es für die Beschäftigten ohnehin am schwierigsten ist«, sagt Korn.
Dass Unternehmen freiwillig auf Veränderungen in Lieferketten hinwirken, reicht nicht aus, meint die Expertin. »Gesetzliche Regulierungen sind erforderlich.« Ein Beispiel dafür ist ein Lieferkettengesetz, wie es zurzeit in Deutschland in Vorbereitung ist. Es soll Konzerne verpflichten, soziale Mindeststandards entlang der Lieferketten zu sichern. »Ein Lieferkettengesetz wäre auch eine Chance zur Stärkung der Gewerkschaften in den jeweiligen Ländern«, sagt Korn.
Es gibt solche Gesetze schon, in den Niederlanden zur Verhinderung von Kinderarbeit, in Australien geht es auch um den Tatbestand Sklaverei. In Frankreich haben Unternehmen weitgehende Berichtspflichten, gleichzeitig haben Geschädigte ein Recht auf Wiedergutmachung für erlittene Schäden. Auch Handelsverträge und Zollpräferenzen können dazu beitragen, den Schutz von Arbeitnehmenden entlang der Lieferketten zu sichern.
Konzerne lagern die Herstellung in Länder mit geringem Lohnniveau aus, weil sie Kosten senken wollen. Zulieferer geben Aufträge an Subunternehmen weiter, um selbst zu sparen. »Das senkt die Sozialstandards«, sagt Barbara Fulda von der Hans-Böckler-Stiftung. Dabei ein großes Problem: »Unternehmen wissen oft gar nicht, von wem sie was bekommen.« Deshalb ist Transparenz über die eigenen Lieferketten für Konzerne der erste Schritt, um Missstände überhaupt erkennen und abändern zu können. Transparenz nützt dabei nicht nur zur Sicherung von Menschenrechten und Sozialstandards, sie hilft den Unternehmen auch, die Widerstandsfähigkeit ihrer Lieferketten zu stärken. Stellen die Verantwortlichen eines Unternehmens beispielsweise fest, dass viele Zulieferer regional konzentriert sind, können sie Risiken minimieren, indem sie Aufträge verlagern.
Zu den Branchen, die stark auf internationale Lieferketten setzen, gehört die Automobilindustrie. Viele deutsche Hersteller und Zulieferer lassen in Osteuropa produzieren, in Rumänien ist Conti der größte Arbeitgeber. In diesen Ländern gibt es vielfach überhaupt keine oder nur auf betrieblicher Ebene Tarifverträge. Die Löhne sind sehr niedrig. »Technisch ist die Produktion hochmodern, aber der Arbeitsschutz ist oft auf einem niedrigen Standard, zum Beispiel sind Absauganlagen für die Luftreinigung teilweise unzureichend«, berichtet Wolfgang Lemb, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. Die Fluktuation ist hoch, viele Beschäftigte sind als Leiharbeitende tätig oder befristet beschäftigt. Wo die Produktion wegen der Pandemie teilweise stillstand, bekamen die Beschäftigten in der EU Kurzarbeitergeld – außerhalb der EU häufig nicht.
In Ungarn betreibt die Regierung eine aktive Ansiedlungspolitik, insbesondere gegenüber deutschen Autobauern. Diese profitieren von einer als »Sklavengesetz« bezeichneten Regelung, nach der Beschäftigte in Ungarn bis zu 400 unbezahlte Überstunden im Jahr leisten zu haben, die erst nach drei Jahren ausgeglichen werden müssen. Auch das Lohngefälle im Land ist gravierend. Zwischen West- und Ostungarn liegt es beispielsweise bei bis zu 30 Prozent. »Branchentarifverträge sind in Ungarn Fehlanzeige, weil es keine Arbeitgeberstrukturen gibt«, berichtet Lemb.
Die IG Metall und die ungarische Branchengewerkschaft Vasas arbeiten entlang der Lieferketten der Autobauer in Form einer Transnationalen Partnerschaftsinitiative eng zusammen. Hier werden für Betriebsräte und Vertrauensleute Weiterbildungsmaßnahmen angeboten, es gibt Schulungen in Organizing. In drei IG-Metall-Büros stehen Ansprechpartner_innen für praktische Fragen zur Verfügung. Delegationen auf Betriebsräteebene sorgen für Erfahrungsaustausch. Ein Beispiel: Im Zuge der Tarifverhandlungen beim Mercedes-Werk in Kecskemét südlich von Budapest mit 4.000 Beschäftigten erkämpfte Vasas mit Warnstreiks Lohnerhöhungen von 26 Prozent über zwei Jahre – unterstützt durch die Partnerschaftsinitiative.
Die Kolleg_innen bei Mercedes in Deutschland wurden über den Arbeitskampf ständig informiert. »Es geht uns auch darum, den Verlagerungsdruck in der Automobilindustrie zu minimieren, indem die Arbeitsbedingungen in Osteuropa verbessert werden«, sagt Lemb. Unabhängig von solchen Projekten hält auch er eines für unverzichtbar: ein Lieferkettengesetz, das die Missstände vor Ort zumindest sichtbar und so Änderungen möglich macht.
Autorin: Anja Krüger ist Journalistin, sie lebt in Berlin und beschäftigt sich unter anderem mit Gewerkschaftspolitik
Dezember 2020