Klagen gegen Corona-Maßnahmen. Der Kommentar. >>Stellt Gesundheit über Gewinne!<<
In der Pandemie zeigt sich, wie rücksichtslos transnationale Konzerne vor allem in Lateinamerika die Möglichkeiten von internationalen Schiedsgerichten nutzen. Dieses System muss beendet werden.
Ein Kommentar von Manuel Pérez-Rocha, Mitarbeiter am Institute for Policy Studies in Washington und dem Transnational Institute und Mitglied im Mexican Action Network on Free Trade.
Ein System zum Schutz transnationaler Investitionen hat sich weltweit wie ein Virus verbreitet: die Investor-Staat-Streitbeilegung, besser bekannt unter ihrem englischen Kürzel ISDS. Sie ist Teil tausender internationaler Freihandelsabkommen und räumt multinationalen Unternehmen das Recht ein, Regierungen unter Umgehung nationaler Gerichte vor supranationalen Schiedsgerichten auf Hunderte von Millionen oder sogar Tausende von Millionen Dollar zu verklagen. Und das nur, weil diese Regierungen ihre Bevölkerung und die Umwelt durch Gesetze schützen, die – so reklamieren die Konzerne – aber den Wert der Auslandsinvestitionen oder die erwarteten Gewinne der Firmen mindern.
Auch die Maßnahmen, mit denen die Regierungen gegen die Covid-19-Pandemie vorgehen, werden bereits von Anwaltskanzleien, die sich auf ISDS spezialisiert haben, auf mögliches Klagepotenzial gescannt. So erklärte Aceris Law, eine internationale Schiedsfirma mit Sitz in Washington DC, »die Reaktion auf die Covid-19-Pandemie (werde) wahrscheinlich verschiedene Schutzmaßnahmen verletzen, die in bilateralen Investitionsabkommen vorgesehen sind, und möglicherweise zukünftig zu Ansprüchen ausländischer Investoren führen«.
Weil Entwicklungsländer eher Gastgeber als Herkunftsland transnationaler Unternehmen und deshalb politisch anfälliger sind, haben sie ein bei weitem höheres Risiko, verklagt zu werden. Laut dem Internationalen Zentrum für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten der Weltbank richteten sich nur 12 Prozent der Klagen gegen westeuropäische oder nordamerikanische Regierungen. Der mit 29 Prozent größte Anteil entfiel auf die Region Lateinamerika und Karibik. Entsprechend wichtig ist es, die laufende Überarbeitung des Freihandelsabkommens zwischen Mexiko und der EU sowie die Verhandlungen zwischen der EU und dem Mercosur genau zu verfolgen. Beide sollen die Rechte von Investoren durch ein Investment Court System, kurz ICS, stärken, das sich nur minimal vom ISDS unterscheidet.
Wie solche Investorenklagen aufgrund der Anti-Covid-19-Regeln aussehen, zeigt sich etwa in Peru. Hier will die Regierung die Maut aussetzen, weil viele Familien aus Angst vor dem Virus aus den überfüllten Städten aufs Land fliehen. Dagegen stehen jedoch Befürchtungen, dass dann die ausländischen Mautbetreiber Ausfallforderungen erheben. In Mexiko, das versucht, seine Stromversorgung zu sichern, droht der Regierung ein Schiedsverfahren durch Unternehmen aus der EU und Kanada, die Zugang zu den mexikanischen Energiemärkten wünschen. Die Gefahr von Klagen besteht aber auch bei Maßnahmen wie der Beschränkung von Geschäftsaktivitäten, die die Verbreitung des Virus verhindern und Arbeitnehmende schützen sollen, oder bei der Sicherstellung von erschwinglichen Medikamenten, Tests und Impfstoffen.
630 zivilgesellschaftliche Gruppen, darunter der Internationale Gewerkschaftsbund und andere globale Gewerkschaftsbünde, haben sich nun zusammengeschlossen und die Regierungen aufgefordert, »eine Führungsrolle zu übernehmen«. Sie sollen dafür sorgen, dass nicht überall auf der Welt Länder »mit einer Welle von ISDS-Fällen konfrontiert sind, die sich aus Maßnahmen ergeben, die ergriffen wurden, um die COVID-19-Pandemie und die sich daraus ergebende Wirtschaftskrise zu bekämpfen«.
Die Pandemie hat das System nicht hervorgebracht, sie zeigt aber wie unter dem Brennglas, wie rücksichtslos Unternehmen ISDS anwenden, um legitime Richtlinien und Vorschriften von öffentlichem Interesse zu untergraben. In diesem Jahr haben ausländische Investoren schon mehr als 1.000 Anträge gestellt. Aufgrund mangelnder Transparenz weiß niemand genau, wie viel die Regierungen letztlich zahlen mussten. Am Institut für politische Studien in Washington haben wir aber errechnet, dass es allein bei Streitfällen zu Öl-, Gas- und Bergbauverträgen mindestens 72,4 Milliarden US-Dollar waren. Auf Rohstoffindustrien entfällt ein großer Anteil der Klagen, weil Regierungen versuchen, Schäden an Umwelt oder Gesundheit zu verhindern oder sicherzustellen, dass mehr Geld im Herkunftsland verbleibt.
Von den 34 früheren Fällen, die wir in diesem Zusammenhang untersucht haben, richtete sich nur einer gegen Kanada. Alle anderen hatten Regierungen von Ländern des globalen Südens im Visier, die am stärksten betroffene Region ist Lateinamerika. In den 59 derzeit bekannten anhängigen Fällen klagen Konzerne auf mindestens weitere 73 Milliarden US-Dollar, wieder geht es nur einmal gegen ein Industrieland.
Die Opfer der wirtschaftlichen Folgen von Covid-19 werden also nicht die Investoren sein, sondern die ärmsten Länder der Welt. Regierungen müssen deshalb dringend praktische Schritte unternehmen, um die Verwendung von ISDS während des Kampfs gegen das Virus auszusetzen und dann für immer zu beenden. Es ist mehr als an der Zeit, Gesundheit und Sicherheit über Gewinne zu stellen.
09/2020