
Just Transition: Tunesien >>Beim Umbau geht es fast immer um die Arbeitsplätze<<
Mansour Cherni vom tunesischen Gewerkschaftsverband Union Générale Tunisienne du Travail, UGTT, kümmert sich darum, dass die Beschäftigten aus den fossilen Kraftwerken und der wasserintensiven Landwirtschaft nicht auf der Straße landen. Denn Tunesien will den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung von heute 4 Prozent bis 2030 auf 30 Prozent ausbauen.
Nord | Süd news: Was ist für Sie als Gewerkschafter die große Herausforderung der Just Transition? Mansour Cherni: Beim Umbau der Wirtschaft geht es fast immer um die Arbeitsplätze. Wir können nicht zulassen, dass mit dem Ende der alten Art zu wirtschaften Arbeitsplätze abgebaut werden, ohne dass wir die Sicherheit haben, dass danach neue entstehen. Ein Beispiel ist das Kraftwerk in La Goulette nahe der Hauptstadt Tunis. Die Anlage funktionierte mit fossilen Brennstoffen, mit Heizöl. Das Kraftwerk wurde stillgelegt und durch einen Windpark ersetzt. Von den 120 Arbeitern wurden 80, die noch 10 bis 15 Jahre Arbeitsleben vor sich hatten, auf die neue Technologie umgeschult. Die Älteren bekamen die Möglichkeit, in den Vorruhestand zu gehen, ohne Leistungen zu verlieren. Ohne dieses Programm wären die meisten der Betroffenen auf der Straße gelandet.
Welche Rolle hat die Gewerkschaft dabei gespielt? Die Energieversorgung in Tunesien liegt bei einem öffentlichen Unternehmen. Wir haben mit der Generaldirektion die Maßnahmen ausgehandelt, um die Arbeitsplätze zu sichern. Gleichzeitig haben wir auch bei Neueinstellungen ein Wort mitzureden. Im Falle von Goulette wurde nach dem Bau der Windparks auch das alte Kraftwerk wieder aufgemacht. Doch zuvor wurde es auf Gas umgestellt.
Ist das Projekt in Goulette einmalig – oder gibt es in Tunesien noch andere Beispiele? Es werden drei weitere Kraftwerke ersetzt und es gibt mehrere Pläne für Wind- und Solaranlagen, vor allem im dünn besiedelten Süden des Landes.
Geht es dabei um die Versorgung des tunesischen Marktes oder auch um den Energieexport Richtung Europa? Erst einmal geht es um die nationale Energieversorgung. Tunesien hat derzeit einen sehr geringen Anteil von gerade mal 4 Prozent an erneuerbaren Energien. Bis 2030 sollen es 30 Prozent sein. In den nächsten Jahren wird mit Hilfe der Weltbank und der Europäischen Union eine Stromtrasse nach Sizilien gebaut. Dann können wir auch für den Export produzieren. Wir haben hier mehr als 3.000 Sonnenstunden pro Jahr. Solarstromproduktion ist billig und der Export rentabel.
Woher soll das Geld für die Investitionen kommen? Die Gelder für neue Anlagen des staatlichen Energieversorgers kommen meist von der Weltbank, von unterschiedlichen Entwicklungsfonds und auch aus Europa. Zum anderen werden auch private Investor_innen eingebunden werden. Mit ihnen werden Verträge ausgehandelt, zu welchen Bedingungen sie den Strom an die staatliche Energieversorgung verkaufen.
Geht Tunesien beim sozial und ökologisch verträglichen Umbau der Landwirtschaft ähnlich ambitioniert vor? Die Landwirtschaft verbraucht derzeit 70 bis 80 Prozent des Trinkwassers. Deshalb ist es wichtig, Bewässerungsleitungen zu erneuern oder die Bewässerung selbst auf Tröpfchenbewässerung umzustellen. Dabei kommt natürlich die Privatwirtschaft ins Spiel. Die Wasserversorgung als solche ist in Hand öffentlicher Unternehmen, die Landwirtschaft meist in privater Hand.
Muss auch überdacht werden, was angebaut wird? Sicherlich. Tunesien exportiert zum Beispiel Tomaten und Melonen. Deren Anbau braucht große Mengen an Wasser. Allerdings ist dies kein leichtes Thema. Schließlich hängen davon viele Arbeitsplätze ab. Wir müssen einen Weg finden, dort Wasser einzusparen.
Warum stellt man nicht direkt auf Produkte um, die in trockenem Klima ohne Bewässerung auskommen? Es gibt Forschungsgruppen, die sich damit beschäftigen, welche Art von Weizen zum Beispiel weniger Wasser braucht. Nicht zuletzt auch deshalb, weil wir selbst in Rekorderntejahren fast ein Drittel des Weizens einführen müssen.
Die Gewerkschaft ist an all diesen Planungen direkt beteiligt? Ja, die UGTT hat in den Aufsichtsräten der öffentlichen Unternehmen Vertreter sitzen. Wir koordinieren unsere Politik in den unterschiedlichen Aufsichtsräten, um so einen globalen, sozial gerechten Umbau voranzutreiben. Und wir haben relativ viel zu sagen. Denn wenn etwas nicht so läuft, wie wir es wollen, haben wir immer noch unsere Mitglieder und können Druck ausüben und im Extremfall gar zum Streik rufen.
Der Interviewte: Mansour Cherni (66) ist Koordinator von acht Gewerkschaften aus dem Öffentlichen Dienst, Dienstleistungsgewerbe, Wasser- und Energieversorgung. Er sitzt im Vorstand des tunesischen Gewerkschaftsverbandes Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT).
Autor: Reiner Wandler lebt als Auslandskorrespondent in Madrid und bereist regelmäßig die Maghrebstaaten, um von dort zu berichten.
Die UGTT
Gegründet: 1946 – 10 Jahre vor der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich
Mitglieder: rund 800.000 Mitglieder in einem Land mit 11 Millionen Einwohnern
Geschichte: Auch in den dunklen Jahren der Ben Ali Diktatur wahrte sie weitgehend ihre Unabhängigkeit. Mitte Dezember 2010, als nach der Selbstverbrennung eines fliegenden Händlers Proteste gegen Ben Ali begannen, war die UGTT dabei. Zuerst stellten sich örtliche, später auch regionale Gewerkschaftsführungen hinter die von Jugendlichen getragene Bewegung. Zum Schluss verweigerte selbst der nationale UGTT-Vorstand in Tunis Ben Ali die Gefolgschaft. Ein Generalstreik in der Industriemetropole Sfax und in der Hauptstadt Tunis versetzten der Diktatur den letzten Stoß. Ben Ali floh am 14. Januar 2011 nach Saudi Arabien. Beim Übergang der Demokratie war die UGTT maßgeblich beteiligt und wurde dafür zusammen mit drei anderen Organisationen 2015 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Dezember 2019