
Gutes Wohnen Vietnam: Sozialer Wohnungsbau - Bislang nicht mehr als ein Versprechen
Der Zuwachs an Wohnraum hat nicht mit dem Zuzug der Landbevölkerung in die großen Städte Vietnams mitgehalten. Für Arbeitsmigrant_innen bleibt deshalb oft nur der Massenschlafsaal im Industriegebiet.
Die Wohnsituation in Vietnam verbessert sich ähnlich dynamisch wie die Wirtschaft wächst – statistisch zumindest. Nach den letzten verfügbaren amtlichen Zahlen von 2015 hat jede Person rund 21 Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung, 1990 waren es lediglich 6. Der Zuwachs kommt jedoch vor allem daher, dass die städtische Mittelschicht selbst Häuser gebaut oder Wohnungen in den während des noch andauernden Baubooms entstehenden Hochhäusern gekauft hat. Die ärmere Bevölkerung profitiert davon nur insoweit, als viele Wohnungseigentümer sich mit der Vermietung von Schlafplätzen etwas Geld hinzuverdienen. Einen auch nur annähernd ausreichenden Mietwohnungsmarkt gibt es jedoch nicht.
Wer aus dem von Armut und dem Klimawandel geprägten Zentralvietnam in die Stadt zieht, muss sich meist mit einem Platz in den Massenschlafsälen im Industriegürtel begnügen. Wer sich die Miete dafür nicht oder nicht mehr leisten kann, kehrt in sein Dorf zurück und ist auf die Hilfe der Familie angewiesen. Dieses traditionelle familiäre Sozialnetz immerhin funktioniert in Vietnam noch so gut, dass es insgesamt kaum sichtbare Obdachlosigkeit gibt.
Aber das traditionelle Agrarland wandelt sich schnell. Die wachsende, größtenteils exportorientierte Industrie braucht Infrastruktur und Arbeitskräfte, sie siedelt sich deshalb rund um die großen Orte an. Lebten 1999 nur 21 Prozent der Bevölkerung im urbanen Raum, sind es 2020 bereits 45 Prozent. Für die Arbeiter_innen aus Zentralvietnam fehlen dort jedoch nicht nur bezahlbare Mietwohnungen, auch der öffentliche Nahverkehr ist so schlecht, dass sie es sich nicht leisten können, zu weit weg von ihren Arbeitsstellen zu wohnen.
Der Standard ist es deshalb, dass sie in den Schlafsälen unterkommen. Bis zu 20 Personen sind in einem Raum untergebracht, berichtet Erwin Schweisshelm, langjähriger Leiter des Hanoier Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung. Wie es dort genau aussieht, kann er nicht sagen. Als Ausländer habe er nur Vorzeigeunterkünfte zu sehen bekommen. Die seien sauber und mit Fernsehern, Gemeinschaftsbädern und -küchen ausgestattet gewesen. Die wenigen Fotos, die auf Fotoplattformen und sozialen Medien zu finden sind, lassen allerdings vermuten, dass die Bedingungen oft deutlich schlechter sind.
Die Regierung verspricht immer wieder sozialen Wohnungsbau. Früher waren damit Programme gemeint, die Wohneigentum unterstützen sollten. Nach dem Kriegsende 1975 konnten Bauern mit eigenem Feld oft besser überleben als die schlecht bezahlten Beamt_innen. Der Staat stellte seinen Angestellen deshalb Kredite bereit, die den Kauf von Wohnraum ermöglichen sollten. In den 1990er Jahren bekamen Kriegswitwen, die neben dem Mann auch noch mindestens einen Sohn im Krieg verloren hatten, vom Staat ein bescheidenes Haus geschenkt - vorausgesetzt, die Männer hatten auf der richtigen, also der Seite Nordvietnams gekämpft.
Sozialen Wohnungsbau mit subventionierten Mietwohnungen, wie er in Europa verstanden wird, sah erstmals das Wohnungsgesetz von 2014 vor. Es funktionierte aber nur in wenigen Modellprojekten. Von den damals entstandenen 92 Millionen Quadratmetern Wohnfläche waren Studien zufolge nur 800.000 Quadratmeter dem sozialen Wohnungsbau zuzuordnen – und auch die nützten kaum den Arbeiter_innen in den Industriegürteln oder Studierenden, wie ursprünglich geplant: Sie wurden überwiegend für Fischer_innen und kleine Gewerbetreibende an der Küste gebaut, die nach Hochwassern umgesiedelt werden mussten.
2016 zeigte eine Umfrage in ausgewählten Industriegürteln, dass fast jeder zweite Beschäftigte dort Wohnraum benötigte, aber nur jeder zehnte Bedarf gedeckt werden konnte. Einige Arbeiter_innen wohnten weitab der Industriezonen zur Untermiete oder in WGs. Die Regierung forderte die Gewerkschaften auf, »mit ihren reichlichen überschüssigen Geldern sozialen Wohnungsbau für Beschäftigte zu betreiben und auch Kindergärten zu bauen«, sagt FES-Experte Schweisshelm. Die offiziellen Gewerkschaften in Vietnam sind parteiabhängig, die Funktionäre des Gewerkschaftsbundes VCGL sind quasi Staatsangestellte und können deshalb Anweisungen von der Regierung erhalten. Sie organisieren keine Streiks und führen keine Tarifverhandlungen. Zwar hat sich Vietnam auf internationalen Druck entschlossen, zukünftig auch freie Gewerkschaften zuzulassen. Aber die Hürden für die Zulassung sind so hoch, dass internationale NGOs sie als nicht umsetzbar kritisieren.
Doch die Wohnungen, die die Gewerkschaften tatsächlich errichteten, reichen bei weitem nicht aus. Und Unternehmen kann der Staat nicht verpflichten. »Werkswohnungen sind gesetzlich nicht vorgeschrieben«, sagt der in Hanoi lebende Rechtsanwalt Oliver Massmann. Von selbst hätten die Unternehmen auch kein Interesse daran, denn sie fänden auch so reichlich Arbeitskräfte. Solche, die in Massenschlafsälen wohnen und von einer Rückkehr in ihre Dörfer träumen.
Autorin Marina Mai ist freie Journalistin, sie lebt in Berlin und beobachtet seit etlichen Jahren vor allem die vietnamesische Community in Deutschland, aber auch die Entwicklungen vor Ort.
April 2020