Gutes Wohnen Indien: Wohneigentum für Frauen - 89.000 Kredite für Abidas und andere
Die 50-jährige Abida wohnt in Indien mit neun anderen Leuten unter einem Dach. Sie produziert Baumwolldecken. Das Geschäft läuft gut. Doch die Einnahmen decken meist gerade die Ausgaben. Für weitere Nähmaschinen und mehr Platz fehlt Geld. Es hilft: das Projekt Sitara.
Es ist kurz nach vier Uhr früh. Noch ist die Sonne über der indischen Stadt Jaipur nicht aufgegangen, doch darauf kann Abida nicht warten. Die 50 Jahre alte Mutter von zwei Söhnen steht bereits an der hölzernen Entkörnungsmaschine und trennt klebrige Samenkörner von der feinen Rohbaumwolle. Hier entsteht weißes Gold, das Abida später selbst weiterverarbeiten wird. Spuren von Farbstoff, Kratzer und Wunden an ihren Händen zeugen von den weiteren Arbeitsschritten.
Nebenan hocken Abidas Söhne Saleem und Zaved, deren Frauen und Kinder. Die Küchendecke ist so niedrig, dass alle beim Essen und Kochen knien müssen. Zu zehnt wohnen sie mit Abida unter einem Dach. Das Haus ist Schlaf-, Wohn- und Arbeitsstätte. Zusammen mit drei Frauen aus der Nachbarschaft produzieren sie täglich rund zwanzig Decken – von der rohen Baumwolle bis hin zum fertig verzierten Produkt. Alles unter der Leitung von Abida. Die Nachfrage ist groß, doch am Ende des Monats decken die Einnahmen meist gerade die Ausgaben. Um mehr Kissen, Matratzen und Decken herstellen zu können, benötigt Abidas Familie weitere Nähmaschinen, mehr Baumwolle und vor allem mehr Platz.
Das alles kostet, doch Familien wie Abidas kommen nur schwer an Geld, denn sie arbeiten im informellen Sektor. Die internationale Arbeitsorganisation ILO kam 2018 zu dem Ergebnis, dass rund 81 Prozent der indischen Arbeiter_innen im informellen Sektor tätig sind. Millionen indischer Familien verdienen ihr Geld ohne feste Arbeitsverträge. Sie verkaufen Obst, Gemüse oder andere Waren. Ihr Einkommen reicht zum Überleben, vertraglich geregelt ist aber nichts. Meist handelt es sich zudem um Arbeiter_innen, die aus ihren Dörfern in Indiens Großstädte gezogen sind und dort in Slums oder anderen brüchigen Verschlägen hausen. Im Dezember 2016 lebten schätzungsweise bis zu 37 Millionen indische Familien in solchen »informellen Siedlungen«. Ihr Leben steht im wahrsten Sinne des Wortes auf tönernen Füßen.
Und Abida hat noch ein weiteres Problem: In Indien ist es ein soziales Hindernis alleinerziehende Mutter zu sein. »Eine Frau in Indien ist ihr gesamtes Leben abhängig von Männern: zuerst von ihrem Vater, dann von ihrem Ehemann und im hohen Alter schließlich von den Einkünften ihrer Söhne«, erklärt Benita Tresa. Dabei stellten Frauen meist das Rückgrat der Familien. Es sei daher sehr wichtig, gezielt Frauen zu unterstützen, meint die Analystin der finanzpolitischen Beratungsgruppe TAC Economics in Chennai.
Abida hat von »Sitara« Hilfe erhalten. Es ist ein Projekt der »Self-Employed Women’s Association« (SEWA), die indische Frauengewerkschaft wurde 1972 von Frauen der Textilgewerkschaft gegründet und hat seither mehrere Programme zur Unterstützung von Frauen und deren Familien entwickelt. »Wir von Sitara wollen gezielt die Wohnsituation von Frauen mit geringem Einkommen verbessern, sei es grundsätzlich, indem Frauen die Eigentumsrechte an ihrer Behausung bekommen, oder speziell, indem wir Mikrokredite ermöglichen, mit denen sie ihre Unterkünfte reparieren oder ausbauen können«, erklärt Shruti Gonsalves, die seit 2013 das Sitara-Projekt leitet. In Indien leben meist ganze Großfamilien unter einem Dach – von den Großeltern bis hin zu Enkeln und Großenkeln. Ein gutes und sicheres Haus bilde deshalb das essenzielle Fundament, betont Gonsalves.
Vielen Frauen im informellen Sektor fehle diese Grundlage: Die rechtliche Situation in Slums ist meist ungeklärt, zudem sind viele Behausungen in einem bemitleidenswerten Zustand. Oft gibt es kein fließendes Wasser, keine separate Toilette, bei Regen tropft es durch die Decke, viele Gebäude sind gar vom Einsturz bedroht.
»Projekte wie Sitara sind sehr wichtig«, sagt Benita Tresa. »Sie sorgen vor allem für Bewusstsein und Informationen.« Denn an Geld mangele es im Grunde nicht. In Indien gibt es auf dem Papier unterschiedlichste Hilfsprogramme - von Krediten über Wohnprogramme bis hin zur Förderung einzelner Bevölkerungsgruppen. Eines haben die Programme der Zentralregierung wie auch der einzelnen Bundesstaaten aber gemeinsam: Die Hilfen kommen nur selten bei den bedürftigen Menschen in den Slums an. Tresa: »Untersuchungen belegen fehlende Effektivität und grassierende Korruption.«
Gonsalves sieht das ähnlich. »Unsere Stärke ist, dass wir jeden Tag in den Slums sind. Wir schaffen zunächst Vertrauen, dann informieren wir über Möglichkeiten, schließlich helfen wir bei der konkreten Umsetzung, sei es beim Ausfüllen der Formulare oder bei den Bank-Terminen.“ Rund 89.000 Kredite habe man bereits vermittelt – mit einer beeindruckenden Bilanz: Lediglich eine Handvoll sind laut Gonsalves nicht zurückgezahlt worden. »Durch die Kredite erhalten Frauen nicht nur Geld, sondern auch viele neue Möglichkeiten. Sie sind ein Stück mehr Gleichberechtigung«, sagt die Projektleitern.
Auch Abida hat dank Sitara von der örtlichen Bank einen Kredit erhalten. Mit dem Geld will sie weitere Nähmaschinen kaufen, zusätzliche Zimmer für das Geschäft und ihre Kinder bauen und ihren Enkeln eine gute Ausbildung ermöglichen.
Autor Michael Radunski lebt als freier Journalist in Berlin, er hat viele Jahre in Indien gelebt.
April 2020