
Das Plädoyer für eine Radikalisierung der Demokratie in Brasilien
Mit der Regierung Jair Bolsonaro ist die demokratische Rechtsstaatlichkeit erneut gefährdet. Die Lage.
Die Gewerkschaften sind zusammen mit den politischen Parteien und anderen Organisationen der Zivilgesellschaft eine der tragenden Säulen der Demokratie. Ohne die Beteiligung der Arbeitenden gibt es keine wirkliche Demokratie. Dies zeigt schon die Tatsache, dass in Zeiten, in denen die Demokratie geschwächt oder inexistent ist, Gewerkschaftsorganisationen immer bedroht, angegriffen und marginalisiert werden.
Eine der ersten Handlungen der brasilianischen Zivil-Militärdiktatur von 1964 war die Aufhebung des Streikrechts verschiedener Sektoren. 10 Jahre lang konnten die brasilianischen Arbeitenden keine Streiks organisieren, obwohl die Lohnkürzungen in diesem Zeitraum so drastisch wie nie zuvor waren. Aber der Widerstand kam dann just von Seiten der Gewerkschaftsbewegung, die ab 1978 historische Kämpfe gegen das autoritäre Regime anführte, unzählige Beschäftigte mobilisierte und damit entscheidenden Druck in Richtung einer demokratischen Öffnung ausübte.
Es war kein Zufall, dass genau zu dieser Zeit die Central Única dos Trabalhadores (CUT), der erste und größte Gewerkschaftsdachverband Brasiliens, gegründet wurde. Im Prozess der Redemokratisierung spielten die Gewerkschaften erneut eine Schlüsselrolle und nahmen aktiv an den Debatten der Verfassunggebenden Versammlung teil. Dank der Stärke der Gewerkschaftsbewegung schrieb die Verfassung von 1988 explizit das Recht auf gewerkschaftliche Organisation und das Streikrecht fest.
Mehr als 30 Jahre danach ist die demokratische Rechtsstaatlichkeit erneut gefährdet: zuerst durch einen parlamentarischen Staatsstreich, der Dilma Rousseff 2016 aus der Präsidentschaft verdrängte, dann durch die politisch motivierte Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten und Gewerkschafters Luiz Inácio Lula da Silva und schließlich durch die Verabschiedung einer Arbeitsrechtsreform, die zu einem regelrechten Abbau von Arbeits- und Gewerkschaftsrechten führte.
Die brasilianische Verfassung fordert explizit eine Vertiefung der partizipativen Demokratie. Die 2018 gewählte Regierung des rechtsextremen Ex-Militärs Jair Bolsonaro hingegen hat kürzlich das abrupte Ende zahlreicher partizipativer Instanzen verfügt. Es handelt sich um sogenannte Räte, an denen unter anderem viele Gewerkschafter_innen beteiligt waren. Deren demokratische Teilhabe an der Gestaltung öffentlicher Politik (zum Beispiel in der Wohnungspolitik, der Gesundheitspolitik oder im Bereich Kommunikation) ist nun nicht mehr gegeben.
Die abrupte Beendigung des verbindlichen Gewerkschaftsbeitrags ohne einen Übergangsplan hat die brasilianische Gewerkschaftsbewegung stark geschwächt. Die neuen Arbeitsgesetze erlauben es dem Arbeitgeber zudem, direkt mit den Arbeitenden über die Arbeitsbedingungen und -rechte zu verhandeln. Die Informalität und die Aushöhlung der Arbeitsverträge nehmen rasant zu. Das Versprechen, nach der Arbeitsrechtsreform Arbeitsplätze zu schaffen, wurde bislang nicht eingelöst. Stattdessen erreicht die Arbeitslosigkeit inzwischen fast 13 Prozent.
Die Regierung Bolsonaro ist nun dabei, einen Vorschlag für die Reform der Renten- und Sozialversicherung zu verabschieden, der ohne Beteiligung der Arbeitnehmervertretungen zustande kam. Wie schon bei der Arbeitsrechtsreform werden internationale Grundsätze eines breiten gesellschaftlichen Dialogs zugunsten einer rückwärtsgewandten und kurzsichtigen Agenda ignoriert. Im Gegensatz dazu plädieren wir für eine Radikalisierung der Demokratie in all ihren Dimensionen – wirtschaftlich, ökologisch und sozial.
Autorinnen: Flavia Silva und Mayra Castro, Silvia ist Koordinatorin, Castro Assistentin der internationalen Projektarbeit im Regionalbüro Lateinamerika des DGB Bildungswerk Bund in São Paulo, Brasilien. Übersetzung: Andreas Behn