
Coronafolgen Bangladesch: Zwischen Kollaps und Corona
Bangladeschs Textilindustrie steht wegen der Exportabhängigkeit besonders unter Druck. Die Arbeitnehmenden hatten die Wahl zwischen Jobverlust oder potenzieller Virusinfektion.
Große Teile des öffentlichen Verkehrs waren noch eingestellt, als hunderttausende Näher_innen in Bangladesch Ende April an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten. So mussten sie den Weg in die Fabriken zu Fuß, per Fahrrad oder Rikscha meistern. Damit war die Rückkehr an die Nähmaschinen und Schneidetische für die Textilarbeiter_innen vor allem anstrengend und teuer.
Am 26. März hatte die Regierung wegen der Corona-Pandemie einen landesweiten Lockdown verhängt. 13 bis 15 Millionen Beschäftigte wurden schlagartig auf die Straße gesetzt. Dazu kamen 300.000 Arbeitsmigrant_innen, die allein bis Ende März nach Bangladesch zurückkehrten, weil sie in den Golfstaaten, wo sie bis dahin gearbeitet hatten, plötzlich überflüssig waren.
In der Textil- und Bekleidungsindustrie verloren ein Viertel der vier Millionen Beschäftigten zunächst ihre Jobs. Mindestens 400 der gut 4.000 Fabriken gingen pleite, so dass eine halbe Million Menschen dauerhaft ohne Arbeit sein dürfte. Weil aber die Konkurrenz in China, Vietnam oder Indonesien meist offen blieb, durften die bis zu 2.000 Textilbetriebe, die noch Aufträge hatten, schon am 26. April wieder loslegen. Die Wiedereröffnung erfolgte nicht phasenweise, sondern planlos und übereilt. Das gefährdete laut Amirul Haque Amin, dem Präsidenten der National Garment Workers Federation (NGWF), die Sicherheit der Beschäftigten.
Zwar gelten auch in Bangladesch Abstands- und Hygieneregeln. Doch sind sie in den engen Fabrikhallen und Unterkünften kaum einzuhalten. Arbeitnehmende hatten die Wahl, ihre Arbeit endgültig zu verlieren oder ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Am 31. Mai war die landesweite Ausgangssperre aufgehoben worden, verbunden mit Appellen, in den Fabriken einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Am selben Tag vermeldeten die Behörden mit 2.545 Neuinfektionen und 40 Toten den höchsten Anstieg. Bis dahin hatten sich von 168 Millionen Einwohner_innen nachweislich 47.000 infiziert, 650 Menschen waren am Virus gestorben.
Um die Produktion zu sichern, eröffnete die Vereinigung der Bekleidungsexporteure (BGMEA) am 6. Juni ihr erstes von drei geplanten eigenen Corona-Testzentren für Textilarbeiter_innen.
Wegen ihrer Exportabhängigkeit steht die bangladeschische Textilindustrie unter besonderem Druck. Sie erwirtschaftet 84 Prozent der Außenhandelseinnahmen. Internationale Bekleidungsketten stornierten ab März Aufträge und wollten auch für fertig produzierte Ware nicht mehr zahlen. Wegen des drohenden Imageschadens erklärte sich die schwedische Kette H&M als größter Kunde schließlich bereit, die bestellte Kleidung abzunehmen, andere Ketten folgten widerwillig, aber nicht alle. Bangladesch verlor Aufträge von mindestens 3 Milliarden US-Dollar.
Um sich Luft zu verschaffen, versuchten viele Textilfabrikanten, ihrerseits die Arbeitenden um die Löhne zu prellen. »Deshalb demonstrieren täglich hunderte Arbeiter_innen vor den Fabriken für ihre Löhne«, berichtet China Rahman, Generalsekretärin des IndustriAll Bangladesh Council, einem Netzwerk aus nationalen Gewerkschaften, die Mitglieder von IndustriAll sind. Dabei könnten sie jedoch die Abstandregeln nicht einhalten. Obwohl der Organisationsgrad nur 5 Prozent beträgt und sich die Beschäftigten noch auf konkurrierende Gewerkschaften verteilen, konnten sie einen Großteil der ausstehenden Löhne erkämpfen. Dabei half auch die Regierung mit, die in ihrem 588 Millionen Dollar-Konjunkturpaket unter anderem vorsah, die Löhne vom März komplett und die vom weitgehend arbeitsfreien April zu 60 Prozent zu zahlen.
Wegen des Lockdowns hätten Gewerkschaften auf Betriebsebene nicht effektiv arbeiten können, sagt Kohinoor Mahmood, Direktorin beim Bangladesh Institute of Labour Studies (BILS), einem Partner des DGB-Bildungswerkes. So hätten sich die Gewerkschaften auf die Zusammenarbeit auf nationaler und sektoraler Ebene konzentriert, um für die Interessen der Arbeitnehmenden einzutreten. Das habe gut geklappt und die Rolle der Gewerkschaften während der Pandemie gestärkt.
»Der informelle Sektor beschäftigt 85 Prozent der Arbeitskräfte und ist am stärksten von der Krise betroffen,« so Kohinoor Mahmood. Am wenigsten Probleme hätten bisher die Beschäftigten im Staatssektor. Doch könne sich das ändern, sollte das Gesundheitssystem wegen der inzwischen schneller steigenden Infektionszahlen doch noch überlastet werden. Bangladesch hat nur 1.267 Beatmungsgeräte.
Autor: Sven Hansen ist Journalist und bereist regelmäßig den asiatischen Kontinent.
Juni 2020