Kommentar: Es geht um ein Menschenrecht
17.03.2021 I Gewerkschaften müssen sich beim Aufbau sozialer Sicherungssysteme für Partizipation und Rechenschaftspflichten einsetzen, fordert der Experte für Entwicklungszusammenarbeit Professor Markus Kaltenborn.

Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht – das ist vielen gar nicht bewusst, weil man mit Menschenrechten eher den Schutz vor Freiheitseinschränkungen oder die Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, auf Nahrung und Bildung in Verbindung bringt. Dabei ist soziale Sicherheit vermutlich dasjenige Menschenrecht, das tagtäglich am häufigsten verletzt wird. Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass rund 4,1 Milliarden Menschen, also mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, keinen Zugang zu den sozialen Sicherungsleistungen haben, die ihnen nach den menschenrechtlichen Vorgaben zustehen würden.
Die Gründe, warum Menschen in soziale Not geraten können, sind vielfältig: Es gibt individuelle Risiken wie Krankheit, Jobverlust oder altersbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und externe Risiken wie Pandemien, Kriegsereignisse oder klimabedingte humanitäre Katastrophen. Maßnahmen der sozialen Sicherheit haben zum Ziel, Vorsorge gegen solche Risiken zu leisten. Mit ihrer Hilfe soll extreme Armut im besten Fall gar nicht erst entstehen, zumindest aber sollen ihre Auswirkungen abgemildert werden. Darüber hinaus gibt es einige weitere Effekte, die mit dem Ausbau der sozialen Sicherheit verbunden sind – zum Beispiel mehr gesellschaftliche Kohärenz und Geschlechtergerechtigkeit, vor allem aber weniger soziale Ungleichheit.
Soziale Sicherheit ist vermutlich dasjenige Menschenrecht, das tagtäglich am häufigsten verletzt wird.
Eine wesentliche Ursache dafür, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung nicht ausreichend sozial abgesichert ist, besteht darin, dass in den meisten Ländern des Globalen Südens nur ein kleiner Teil der erwerbsfähigen Personen in formellen Beschäftigungsverhältnissen arbeitet. Die große Zahl der Menschen dort ist im informellen Sektor tätig – etwa als Landarbeiter_innen, als Kleinselbstständige oder auch als abhängig Beschäftigte in den vielen formell nicht registrierten Betrieben. Sie werden in der Regel nicht durch staatliche oder betriebliche Sicherungssysteme und erst recht nicht durch Privatversicherungen geschützt, sondern sind auf die Unterstützung durch die Familie oder andere informelle Netzwerke angewiesen. Um auch diese Menschen und ihre Kinder abzusichern, ist eine deutliche Ausweitung der staatlichen Hilfsangebote z.B. über Cash-transfer-Programme oder kostengünstige Gesundheitsdienstleistungen notwendig.
Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit verlangt allerdings nicht nur, dass Staaten ihrer Bevölkerung das notwendige Minimum an Sozialleistungen zur Verfügung stellen. Vielmehr müssen die Betroffenen auch die Möglichkeit erhalten, auf die Ausgestaltung der Schutzprogramme Einfluss zu nehmen. Außerdem sollten für sie Überprüfungs- und Beschwerdemöglichkeiten bereitstehen, die es ihnen erlauben, Probleme bei der Implementierung der Programme frühzeitig aufzudecken und sich gegebenenfalls auch dagegen zur Wehr zu setzen. Damit diese beiden Komponenten eines menschenrechtsbasierten Sozialschutzes – Partizipation und Rechenschaftspflicht – umgesetzt werden können, bedarf es der Mithilfe sowohl engagierter Gewerkschaften als auch von Organisationen, die Arbeitende im informellen Sektor vertreten. Ihnen kommt beim Aufbau sozialer Sicherungssysteme eine außerordentlich wichtige Funktion zu, deren Bedeutung sich zunehmend auch auf internationaler Ebene zeigt.
Denn auch wenn soziale Sicherung eine Aufgabe ist, die letztlich jedes Land selbst aus seinen eigenen Mitteln bestreiten muss, so gibt es doch einige Staaten, die aufgrund ihrer schwierigen wirtschaftlichen Situation – jedenfalls kurz- und mittelfristig – dazu nicht in der Lage sind. Während der Corona-Pandemie ist daher der Ruf laut geworden, dass sich die internationale Gemeinschaft an der Finanzierung der Schutzsysteme in diesen Ländern in einer Übergangsphase stärker beteiligt. Der zu diesem Zweck von UN-Menschenrechtsexperten vorgeschlagene Globale Fonds für soziale Sicherheit könnte einen ganz wesentlichen global-solidarischen Beitrag dazu leisten, dass das Menschenrecht auf soziale Sicherheit nicht weiterhin ein Privileg der reicheren Hälfte der Weltbevölkerung bleibt. Die neue Bundesregierung hat sich vorgenommen, diese Initiative weiter voranzubringen. In den Gremien eines solchen Finanzierungsmechanismus sollten zivilgesellschaftliche Akteure mitarbeiten, die Arbeitnehmer_innen und Menschen im informellen Sektor vertreten. Das ist wichtig, weil sie es sind, die oft über genaue Kenntnisse der Situation auf Länder- und Regionalebene verfügen und daher in der Lage sind, die Anliegen der besonders schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen in den Entscheidungsverfahren des Fonds zu artikulieren.
Autor: Markus Kaltenborn ist Professor für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist das Recht der Entwicklungszusammenarbeit. Er ist auch Direktor des Instituts für Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik (IEE) der Ruhr-Universität Bochum.
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