Nie wieder Rana Plaza! Aber wie? Von den UN-Leitprinzipien zur Initiative Lieferkettengesetz.de
Wie können wir verhindern, dass Fabrikgebäude wegen fehlender Kontrolle einstürzen oder abbrennen und tausende Menschen in den Tod reißen, in Brasilien jährlich 148 Menschen an Pestizidvergiftungen sterben oder 2 Millionen Kinder auf Kakaoplantagen Westafrikas ausgebeutet werden? Erklärungen und Empfehlungen zur Einhaltung von Menschenrechts- und Arbeitsstandards weltweit wie die OECD-Leitsätze und die ILO-Grundsatzerklärung gibt es längst, ebenso freiwillige Selbstverpflichtungen von Multinationalen Unternehmen. Uwe Wötzel erläutert warum es trotzdem ein Gesetz braucht.
Der Autor Uwe Wötzel ist Jurist und arbeitet als Gewerkschaftssekretär der Vereinte Dienstleistungsgewerk-schaft ver.di in ihrer Bundesverwaltung. Er vertritt ver.di im Trägerkreis der Kampagne für Saubere Kleidung, im Koordinierungskreis des CorA-Netzwerk für Unternehmensverantwortung sowie im Steuerungskreis der Initiative Lieferkettengesetz.de. Der Artikel wurde im Dezember 2019 in unserer Broschüre Gewerkschaftsrechte weltweit (2019) veröffentlicht.
Menschen haben Grundbedürfnisse. Sie wollen ein gutes Leben führen und brauchen dafür ein Einkommen, das ihre Existenz sichert. »Es ist nichts Ungewöhnliches (…), 15 bis 20 Kinder in einem kleinen Zimmer von vielleicht nicht mehr als 12 Fuß im Quadrat zusammengepökelt zu finden, während 15 Stunden aus 24 beschäftigt an einer Arbeit, an sich selbst erschöpfend durch Überdruss und Monotonie, zudem unter allen nur möglichen gesundheitszerstörenden Umständen«: Diese Beschreibung von Arbeitsbedingungen stammt nicht aus dem heutigen Südasien. Diese Zeilen aus dem Bericht eines britischen Arbeitsinspektors aus dem Jahr 1864 über die Situation in Nottingham zitiert Karl Marx in »Das Kapital«. In Westeuropa konnten Gewerkschaften in ihren langen Kämpfen das ausbeuterische Elend zurückdrängen. Schritt für Schritt setzten sie bessere Bedingungen und höhere soziale Standards durch gesetzliche Regelungen und gute Tarifverträge durch.
Reichtumsvermehrende Eigentums- und Machtverhältnisse
Doch für Milliarden Menschen, insbesondere im Süden unseres Planeten sind heute nach wie vor die Grundbedürfnisse nicht gesichert. Viele hungern trotz Arbeit. Sie arbeiten unter unmenschlichen Verhältnissen. Investoren haben seit den 1960er Jahren Produktionen von Konsumgütern in den globalen Süden verlagert. Einige hundert superreiche Finanzinvestoren beherrschen mit ihrer Kapitalmacht das Geschehen in den Transnationalen Unternehmen und in den globalen Lieferketten. Transnationale Unternehmen kontrollieren 80 Prozent des Welthandels. Sie bestimmen ganz entscheidend nicht nur die durch extrem räuberische Ausbeutung geprägten Arbeitsbedingungen, sondern über ihren Einfluss in den Medien und ihrer kulturellen Hegemonie die Konsumgewohnheiten von vielen Millionen Menschen.
Während die Rechte der Investoren durch Gesetze und Handelsabkommen massiv geschützt sind, haben Beschäftigte und Millionen Erwerbslose strukturell deutlich schwächere Rechte. Vielfach sind sie politisch, rechtlich und ökonomisch völlig schutzlos. Das zeigen die Berichte der Internationen Arbeitsorganisation und des Internationalen Gewerkschaftsbundes seit Jahren: Ungesicherte und informelle Arbeit ist global dominant und wächst. Arbeitslosigkeit verstärkt den Druck auf Löhne, weltweit sind über 200 Millionen Menschen erwerbslos registriert. Weltweit leben 40 Millionen Menschen in moderner Sklaverei und 152 Millionen Kinder müssen arbeiten. 70 Prozent aller Menschen haben keinen ausreichenden sozialen Schutz und jedes Jahr sterben über zwei Millionen Menschen durch Unfälle bei der Arbeit. Arbeitsrechte werden durch Gewalt, Diskriminierungen und Einschüchterungen in fast allen Ländern millionenfach verletzt. In über hundert Ländern werden Gewerkschaftsrechte massiv verletzt, Gewerkschaftsgründungen unterdrückt oder behindert, Gewerkschaftsmitglieder durch Entlassungen, Lohneinbußen oder andere Maßnahmen diskriminiert. Das Recht auf Tarifverhandlungen wird verletzt.
Gewerkschaften kämpfen seit ihrer Gründung für gute Arbeits- und Lebensbedingungen, für einen wirksamen, gesetzlichen Schutz der kollektiven und individuellen Arbeitsrechte mit dem Ziel der Eindämmung einer Unterbietungskonkurrenz. Dieses Recht haben Gewerkschaften tatsächlich noch nicht überall, sie haben es in vielen Ländern in harten Auseinandersetzungen gegen das Kapital erstritten und müssen es oft täglich verteidigen.
Gewerkschaftsrechte sind nach wie vor der Schlüssel für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen.
Die fortschreitende Liberalisierung der internationalen Märkte für Kapital, Waren und Dienstleistungen hat das Gewicht der Akteure in den politischen Arenen, insbesondere die globalen Kräfteverhältnisse zwischen Unternehmen und Gewerkschaften enorm verändert. Nie war die Internationalisierung des gewerkschaftlichen Handels so durchgreifend und die Kooperation mit anderen Menschenrechtsorganisationen so dringend gefordert wie heute. Die Sicherung politischer und sozialer Rechte für Gewerkschaften entscheidet darüber, ob brutale Ausbeutung und extreme Armut existiert, in gewaltsame Aufstände eskaliert, oder ob soziale Konflikte friedlich gelöst werden.
Nicht erst seit der Katastrophe in den Textilfabriken von Rana Plaza 2013 arbeiten die Gewerkschaften stärker und zugleich besser global vernetzt für den wirksamen Schutz der Arbeitsrechte. Die Auseinandersetzung über eine globale soziale Regulierung existiert seit einhundert Jahren und führte 1919 zur Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Auf Initiative der Gewerkschaften steht die Regulierung der globalen Lieferketten auf den Tagesordnungen von politischen Gipfeltreffen und der Internationalen Arbeitskonferenz der ILO. Ein Übereinkommen soll einen internationalen Rechtsrahmen mit wirksamen Mechanismen schaffen, mit Rechenschaftspflichten für Unternehmen, mit Elementen der Arbeitsaufsicht und der Streitschlichtung nach Regeln der ILO. Als erster Schritt soll die ILO-Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik gestärkt werden. Bis heute war diese Erklärung nahezu wirkungslos gegen Arbeitsrechtsverletzungen durch Arbeitgebende auf internationaler Ebene. Die Erklärung muss aktualisiert werden, hohe Standards sichern und endlich einen wirksamen Streitbeilegungs-Mechanismus zugunsten der Beschäftigten schaffen. Auf den Ebenen der nationalen Gesetzgebung müssen Sorgfaltspflichten für die Unternehmen mit Bezug auf Arbeitsrechte in den Lieferketten eingeführt werden. Unternehmen müssen für Rechtsverletzungen zivil- und strafrechtlich haften.
Freiwillige CSR-Erklärungen sind wirkungslose Luftnummern
Die mutige Kapitänin des Seenotrettungsschiffes »Seawatch 3«, Carola Rakete antwortete auf die Frage nach dem besten politischen Witz: »Die freiwillige Selbstverpflichtung zur Senkung der Emissionen im Pariser Klimavertrag.« Das trifft die Tragödie aller freiwilligen Instrumente zur Erreichung von sozialen und ökologischen Zielen. In den 1990er Jahren gelang es den einflussreichen Lobbyisten der Unternehmen und ihrer Investoren, in der Politik das Instrument der freiwilligen Selbstverpflichtungen zu verankern. Man erfand dafür den schönen Namen »Corporate Social Responsibility« (CSR). CSR steht für die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen auf der Basis von freiwilligen Selbstverpflichtungen und wird in der EU seit 2001 der Forderung nach einklagbaren gesetzlichen Pflichten entgegengesetzt. Der DGB bewertet CSR zutreffend kritisch: »Die CSR-Debatte ist eine Reaktion auf die weltweite Kritik an sozial und ökologisch unverantwortlichem unternehmerischen Handeln. Im Kern geht es dem DGB und den Gewerkschaften um die bis heute fehlenden verbindlichen zwischenstaatlichen Regelungen zur Durchsetzung einer sozialen Dimension der Globalisierung. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise und der Klimawandel zeigen deutlich: Wir brauchen einen Ordnungsrahmen, der soziale, ökologische und wirtschaftliche Ziele gleichstellt. Der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Verbraucherinnen und Verbraucher und nicht zuletzt der Umwelt vor unternehmerischen Missbräuchen muss hierbei ausgeweitet werden.«
Doch der CSR-Etikettenschwindel ist längst aufgeflogen. So wie die Eindämmung von Unterbietungswettbewerb im nationalen Maßstab nur durch Gesetze und normativ wirkende Tarifverträge gelingt, so kann globales Dumping nur mit einklagbaren verpflichtenden Standards unterbunden werden. Jeder Beschäftigte erfährt in seinem Arbeitsleben, dass Ansprüche aus dem Arbeitsrecht und aus Tarifverträgen Leistungspflichten begründen und eingeklagt werden können. Freiwillige Angebote begründen in der Regel keine justiziablen Ansprüche.

Politik muss globale Regellücken schließen
Als zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch die »Weltkommission der ILO zur Sozialen Dimension der Globalisierung« Regeln forderte, setzten die Vereinten Nationen einen UN-Sonderbeauftragten für Unternehmen und Menschenrechte ein. John Ruggie übernahm diese Aufgabe und bestätigte 2008 mit einem Bericht erneut die Existenz von Regulierungslücken. Ruggie formulierte Empfehlungen, die auch von Gewerkschaften als sinnvolle notwendige erste Schritte bewertet wurden. Auf Basis des Ruggie-Berichts nahm der UN-Menschenrechtsrat 2011 die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte an. Diese Leitprinzipien verpflichten alle Staaten zum Schutz der Menschenrechte und rufen Unternehmen zur Achtung der Menschenrechte in ihren Produktions- und Lieferketten auf. Diese Leitprinzipien sollen die Mitgliedstaaten zu einer besseren Rechtssetzung anleiten und somit zur Verhütung und Behebung von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Wirtschaftstätigkeit führen. Die Leitprinzipien sind in drei Säulen eingeteilt:
- die Pflicht des Staates, Menschenrechte zu schützen,
- die Verantwortung von Unternehmen, diese Rechte zu achten und
- den notwendigen Zugang zu gerichtlicher und außergerichtlicher Abhilfe gegen Menschenrechtsverletzungen.
Die EU und die Bundesregierung haben sich zur Umsetzung der Leitprinzipien verpflichtet.
Im Dezember 2016 hat die Bundesregierung einen Nationalen Aktionsplan (NAP) für Wirtschaft und Menschenrechte beschlossen. Doch mit dem NAP selbst zeigt die Bundesregierung keinen Mut zu Verbindlichkeit bei der Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, wie der DGB zu Recht kritisiert. Nun zeigt sie auch bei der Umsetzung dieses schwachen NAP mangelnde Konsequenz. In zentralen Bereichen der staatlichen Schutzpflicht – Außenwirtschaftsförderung, öffentliche Beschaffung, Handelsabkommen – erfolgten bisher nur Trippelschrittchen in Richtung Sichtbarmachung der menschenrechtlichen Verantwortung. Weitergehende Maßnahmen scheiterten bisher am Widerstand oder der Inaktivität der beteiligten Ministerien, insbesondere des Bundeswirtschaftsministeriums. Verbesserungen beim Rechtszugang sind auch nach zwei Jahren noch nicht einmal diskutiert worden. Das Monitoring, inwieweit die großen Unternehmen in Deutschland ihre menschenrechtliche Sorgfaltspflicht erfüllen, soll in völliger Anonymität erfolgen, beschränkt sich auf formale Verfahren und klammert die Frage aus, wie wirksam diese sind.
In anderen Mitgliedsstaaten der EU waren Regierungen mutiger. Seither hat England 2015 den »Modern Slavery Act« verabschiedet, der Unternehmen dazu verpflichtet, Maßnahmen gegen moderne Formen der Sklaverei in ihren Lieferketten zu ergreifen. Niederländische Unternehmen müssen Kinderarbeit ausschließen, französische seit 2016 Menschenrechtsverletzungen.
In Deutschland fordert ein breites Bündnis aus Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften ein Lieferkettengesetz. Nach vielen tausend Toten in der Textilindustrie, auf Ölplantagen, in Minen ist das längst überfällig. Für den Schutz von Menschenrechten, Sozial- und Umweltstandards, gegen Gewinne ohne Gewissen hilft nur noch ein gesetzlicher Rahmen. Dafür hat sich die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der DGB mit vielen anderen Organisationen der Zivilgesellschaft dieser »Initiative Liegerkettengesetz.de« angeschlossen. Die Initiative fordert die Bundesregierung auf, endlich ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen. Mit der breiten Unterstützung der Öffentlichkeit wollen wir den Druck für diese Forderung verstärken.