„Sweatshops gibt es auch bei uns“
Auch in Brasilien sind die Arbeitsbedingungen in den Wertschöpfungsketten ein großes Thema. Bisherige Versuche, sie zu verbessern und die Armut zu bekämpfen, werden derzeit von der Regierung Temer zurückgedreht. Für die Gewerkschaften ist das eine gewaltige Herausforderung, sagt CUT-Bundesjugendsekretärin Edjane Rodrigues. Auf der Bundesjugendkonferenz des DGB im November hat sie eine kämpferische Rede gehalten – und Zuversicht verbreitet.
NSN: Edjane, Brasilien steckt gerade in einer ernsthaften politischen und sozialen Krise. Was erhoffst Du Dir von Deinem Besuch bei den deutschen Gewerkschaften?
Edjane Rodrigues: Neoliberale Entwicklungen gibt es nicht nur in Brasilien, sondern überall auf der Welt. Dagegen muss sich die Jugend international vereinen, um neue Perspektiven zu entwickeln. Wir müssen uns besser organisieren, herausfinden, wie wir zu mehr Solidarisierung kommen – und dabei voneinander lernen. Wir sind ja sehr vielfältig, und nur mit vielfältigen Ansätzen können wir gewinnen.
Du warst zu Gast bei der Bundesjugendkonferenz. Was nimmst Du von dort mit?
Die Gewerkschaften in Deutschland sind gut organisiert. Ich wollte verstehen, wie die Jugendstrukturen hier funktionieren, welche Kämpfe es gibt und wie die Gewerkschaftsjugend Großprojekte angeht. Es ist interessant und inspirierend, dass die Jugend in Deutschland diese eigene Konferenz hat, um sich auf eigene Forderungen zu verständigen. In Brasilien haben wir das so nicht. Dabei ist die Lebensrealität von Jugendlichen bei uns und bei Euch durchaus vergleichbar – junge Menschen suchen einen Einstieg in den Arbeitsmarkt, sie wollen die Familie unterstützen oder selbst eine gründen. Aber sie arbeiten oft in ungeschützten Verhältnissen.
In Deutschland wird gerade viel über gute Arbeit in den Wertschöpfungsketten transnationaler Konzerne diskutiert. Stichwort Textilindustrie Bangladesch. In welchen Branchen werden Menschen am unteren Ende der Kette in Brasilien ausgebeutet?
Sweatshops für die Textilindustrie gibt es auch bei uns. Ich komme selbst aus der Landwirtschaft, die in Brasilien immer noch von sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen geprägt ist. Viele Menschen müssen innerhalb des Landes migrieren, weil es in ihrer Heimatregion keine Arbeit und wegen des abgeholzten Regenwalds und undichten Leitungen auch immer weniger Wasser gibt. Sie gehen in den Südosten, wo es die großen Apfelsinenplantagen für den Export gibt. Dorther kommt 85 Prozent des Orangensafts weltweit. Er wird auch von deutschen Händlern verkauft. Aber es gibt Kinderarbeit, selten Schutzkleidung, einen hohen Einsatz an Pestiziden und Hungerlöhne. Hier können europäische oder deutsche Gewerkschaften Druck auf die Händler ausüben, dass sie auch für die Arbeitsbedingungen in ihren Lieferketten Verantwortung übernehmen.
Und was trägt die Politik der Regierung Temer dazu bei?
Präsident Michel Temer viel von den Reformbemühungen der vorangegangenen Mitte-Links-Regierungen kaputt gemacht, seit er sich an die Macht geputscht hat. um seine neoliberale Agenda durchzusetzen und soziale und Arbeitsrechte sowie demokratische Freiheiten abzubauen. Das erschwert alle Verbesserungsansätze und dreht auch bereits erstrittene Errungenschaften zurück.
Was hatten die Mitte-Links-Regierungen zum Positiven verändert?
Sie hatten beispielsweise das Problem gesehen, dass die Infrastruktur im ländlichen Raum völlig unterentwickelt ist. Da gab es Initiativen zu einer Art Strukturpolitik, man wollte den ländlichen Raum entwickeln, hat den Dialog mit den Leuten dort gesucht. Die Jugendlichen auf dem Land wollen auch hochwertige Schulen, möglichst vor Ort, sie wollen eine Ausbildung im Kontext der eigenen Community. Es gab ein Jugendbildungsprogramm von zunächst 2 Millionen Real, für das wir dann 20 Millionen erkämpft haben. Das steht unter der neuen illlegitimen Regierung auf der Kippe.
Was macht sie?
Die Regierung will über eine Verfassungsänderung die Haushaltsmittel für Bildung, Soziales und Gesundheit für die nächsten 20 Jahre so weit einfrieren, dass sie bestenfalls mit der Inflation steigen. Das ist bei einer jungen, wachsenden Bevölkerung der Tod.
Wie reagiert Ihr als Gewerkschafter_innen darauf?
Der Kampf dagegen ist eine große Herausforderung, wir hätten eigentlich strukturelle Reformen gebraucht, eine Demokratisierung der Medien und ähnliches. Jetzt geht es aber vor allem darum, Zeit zu gewinnen, aber auch, den Menschen zu zeigen, was die sogenannten Reformen für sie bedeuten. Toll ist, dass die vielen unterschiedlichen Gewerkschaften es hinbekommen haben, an einem Strang zu ziehen. Das hatte ich vorher noch nicht erlebt - diese Mobilisierung, diesen Widerstand auf der Straße, an der Basis.
Mit welchen Aktionsformen und Mitteln arbeitet Ihr?
Wir arbeiten auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Wir entsenden immer wieder Vertreter_innen zu den Kongressabgeordneten, um ihnen zu erklären, was deren Entscheidungen für die Bevölkerung bedeuten. Diese Lobbyarbeit unterstützen wir mit sogenannten Flugplatzaktionen: Wenn die Abgeordneten in ihre Wahlkreise zurückkommen, empfangen wir sie am Flughafen mit einem Massenauflauf, um zu zeigen, was wir von ihrer jeweiligen Politik halten. Oder wir hängen ein Poster mit dem Gesicht des örtlichen Abgeordneten an die Kirche, in die er geht. Auf dem steht dann: Dieser Mann oder diese Frau hat für Temers Reform gestimmt. Wir haben auch schon Bundesstraßen und Ministerien besetzt.
Das deutsche Fernsehen zeigt manchmal auch Bilder von gewalttätigen Protesten.
Es ist immer die Frage, wo die Proteste statt finden. In Brasilia kommt es oft zu Krawallen, weil die Polizei dort sehr gewalttätig vorgeht.
Wie geht es weiter?
Aktuell machen wir Aktionstage und sammeln wir Unterschriften für ein Volksbegehren gegen die Arbeitsrechtsreformen. Wir brauchen eine Million Unterstützer_innen, damit der Kongress sich damit beschäftigen muss. Das ist schwer, weil es keine unabhängigen Medien gibt. Aber wir geben nicht auf und werden es schaffen!
Edjane Rodrigues, 29, ist Bundesjugendsekretärin der CUT, nationale Gewerkschaftssekretärin in der Landarbeiter_innen-Gewerkschaften-Konföderation
CONTAG und Vorsitzende des Jugendkomittees der Trade Union Confederations of the Americas. Und sie ist alleinerziehende Mutter. Wenn man sie fragt, wieviele Stunden sie arbeitet, sagt sie: „Ich betrachte das nicht als eine normale Arbeit, bei der man Stunden zählt und Feierabend hat.“