
Weltweit: Der neue Zeitgewinn für Beschäftigte
Die Digitalisierung verändert das Arbeitsleben weltweit. Noch ist zwar unklar, wie genau. Doch ein Aspekt ist, zeigt eine neue Studie: Beruf und Privatleben können sich mit ihr besser verbinden lassen. Entscheidende Voraussetzung: Es gibt klare Regeln.
In Argentinien, Brasilien und vielen anderen Ländern sind Arbeitszeiten durch mobiles Arbeiten und Homeoffice aus den Fugen geraten, die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben vermischen sich. Zwar birgt die Digitalisierung Risiken wie intensiveres Arbeiten, mehr Überstunden und damit mehr Stress und drohende Gesundheitsstörungen. Doch wenn solche falschen Entwicklungen durch klare Regeln eingehegt werden, sind die Chancen größer als die Gefahren. Das ist das Ergebnis der gemeinsamen Studie „Immer und überall arbeiten: Auswirkungen auf die Arbeitswelt“ der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der EU (Eurofound).
Für die Analyse haben Wissenschaftler_innen Erhebungen aus 15 Ländern ausgewertet. „Fast alle nationalen Studien kommen zu positiven und zu negativen Ergebnissen“, heißt es. Untersuchungen aus Brasilien, Argentinien, Indien, Japan und den USA zeigen ähnliche positive Effekte wie in europäischen Ländern, etwa eine bessere Work-Life-Balance, kein stressiges Pendeln, eine höhere Produktivität sowie bessere Inklusionschancen für Menschen mit Behinderung. Aber: Die Befragten geben auch an, dass sie es schwer finden, eine klare Trennlinie zwischen Arbeit und Privatleben zu ziehen. Zu Problemen führen auch Mehrarbeit oder fehlende Ruhezeiten.
Die Einschätzung der eigenen Lage ist oft widersprüchlich, wie das Beispiel Brasilien zeigt: Bei einer Umfrage unter zu Hause tätigen Call-Center-Beschäftigten erklärten 98 Prozent, ihr Heimarbeitsplatz verbessere ihre Lebensqualität. Die meisten gaben als Grund dafür den Zeitgewinn an. Denn sie müssen nicht mehr pendeln. Die durchschnittliche Wegezeit zwischen Wohnhaus und Arbeitsplatz im Großraum São Paulo beträgt eine Stunde und 40 Minuten. Gleichzeitig berichten 50 Prozent der Befragten über häusliche Probleme, weil die Arbeit mehr Raum in ihrem Privatleben einnimmt.
In einigen Ländern wie Argentinien gibt es staatliche Initiativen, um mobile Tätigkeiten zu regeln. Das Ministerium für Arbeit, Beschäftigung und Sicherheit hat vor einigen Jahren ein Telearbeitsnetzwerk ins Leben gerufen, das unter anderem ein Handbuch mit vorbildlichen Beispielen erstellt hat. Es richtet sich an Unternehmen, Gewerkschaften, Organisationen und Behörden. Unter anderem werden darin Empfehlungen für die Vertragsgestaltung gegeben, zum Beispiel zur Vereinbarung von Arbeitszeiten oder zum Zugang zu Schulungen.
Sinnvoll wären mehr Vereinbarungen von Tarifpartnern, um Arbeits- und Mindestruhezeiten zu regeln, heißt es in der Studie. Die Autoren empfehlen, dass Beschäftigte nur zeitweise von zu Hause oder mobil arbeiten. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass zu viel gearbeitet werde und sich die bessere Work-Life-Balance ins Gegenteil verkehre. Das gilt erst recht für die digitalen Tagelöhner_innen, die sogenannten Crowdworker.
In einer weiteren Studie „Digitale Arbeitsplattformen und die Zukunft der Arbeit“ hat die ILO ihre Lage untersucht. Beim Crowdworking vergeben Unternehmen Mini-Aufträge an sehr flexibles Personal, etwa Datenverarbeitung, Übersetzungen oder das Verschlagworten von Bildern. Für die Untersuchung wurden 3.500 Crowdworker aus 75 Ländern befragt, die über die großen Plattformen Amazon Mechanical Turk, CrowdFlower, Clickworker, Microworkers und Prolific Miniaufträge erhalten. Ihre Arbeitszeiten sind zum großen Teil entgrenzt: 36 Prozent der Befragten arbeiteten regelmäßig sieben Tage in der Woche, 43 Prozent während der Nacht. 68 Prozent verdienen ihr Geld zwischen 18 bis 22 Uhr. Sie richteten sich nach den Wünschen der Auftraggeber – etwa wegen unterschiedlicher Zeitzonen – oder hatten weitere Verpflichtungen. Viele Frauen kombinieren ihre Arbeit mit Betreuungsaufgaben. Ein Problem ist der Studie zufolge aber, dass oft keine Arbeit verfügbar ist, wenn die Auftragnehmer_innen sie möchten.
Diese Muster sind in allen Regionen konsistent. Allerdings: Im globalen Süden verdienen Crowdworker auf dem gleichen Arbeitsmarkt deutlich weniger. Während es in den USA 4,60 US-Dollar und in Europa sowie Zentralasien 3 US-Dollar pro Stunde sind, sind es in der Region Asien / Pazifik 2,22 Dollar und in Afrika 1,33 Dollar.
Anja Krüger
Die Autorin lebt in Berlin als Journalistin und verfolgt seit langem die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt.