Uruguay ratifziert C190. Coup der Gewerkschaftsfrauen
In Uruguay haben die Gewerkschaften die Lücke zwischen Wahl und Amtsantritt des neuen konservativen Präsidenten genutzt, um die Ratifzierung der neuen ILO-Konvention gegen Gewalt und sexuelle Belästigung im ersten Land überhaupt durchzusetzen.
In Uruguay werden jährlich 40.000 Anzeigen und Beschwerden wegen geschlechtsspezifischer Gewalt oder sexueller Belästigung aufgenommen. »Aus Erfahrung wissen wir, dass beides in Zeiten großer Unsicherheit zunimmt«, sagt Ana Aguilera vom Sekretariat für Gender, Gerechtigkeit und Vielfalt des uruguayischen Gewerkschaftsdachverbands PIT-CNT. Die Covid-19-Pandemie ist so eine Zeit. »Allein in den Monaten April und Mai haben die Anrufe beim Hilfstelefon für betroffene Frauen um 80 Prozent zugenommen«, so Aguilera.
»Für den neuen Präsidenten sind das allenfalls Kollateralschäden der Pandemie«, sagt Milagro Pau, die ebenfalls dem Sekretariat angehört. Im März hat der konservative Luis Lacalle Pau das Amt übernommen und so 15 Jahre mitte-linker Präsidentschaften auch de-facto beendet. Die drei Monate zwischen Präsidentschaftswahl und Amtsantritt nutzten die Gewerkschaftsfrauen, um im Eilverfahren die ILO-Konvention C190 gegen Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vom Kongress ratifizieren zu lassen. »Unter der neuen Regierung wäre die ILO-Konvention wahrscheinlich nicht angenommen worden«, sagt Pau.
So aber wurde Uruguay der erste Staat, dessen Parlament das »Übereinkommen über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt« der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifizierte. Weil im Juni die Republik Fidschi als zweiter Staat folgte, kann die im vergangenen Jahr von der Internationalen Arbeitskonferenz beschlossene Konvention am 25. Juni 2021 in Kraft treten. Diese definiert alle Vorkommnisse als »Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt«, »die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen«, und zielt darauf, sie zu verhindern oder zu beseitigen.
»Selbstverständlich freut es uns, dass Uruguay die C190 als Erster ratifizierte.« Generalsekretär Marcelo Abdala vom Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT ist zufrieden. Der Verband umfasst rund 75 Einzelgewerkschaften in denen gut 120.000 Mitglieder organisiert sind. Die spanische Abkürzung PIT-CNT steht für »Gewerkschaftsübergreifendes Plenum der Arbeitnehmer - Nationaler Arbeitnehmerkonvent«. Auch wenn
das neue Übereinkommen Gewalt und Belästigung gegen alle Geschlechter beseitigen will, waren die treibenden Kräfte in Uruguay – wie auch in den meisten anderen Ländern – Frauen. 2006 hatte der PIT-CNT erstmals eine Frauenkommission eingerichtet, aus der 2012 das Sekretariat für Gender, Gerechtigkeit und Vielfalt hervorging.
»Von Beginn an haben wir sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen zum Thema gemacht«, sagt Ana Aguilera. Die nationalen Erfolge blieben nicht aus. Gewerkschaften, Unternehmen und Regierung richteten gemeinsam eine Kommission ein, die eine Gesetzesvorlage gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und im Bildungsbereich erarbeitete. 2009 wurde sie mit dem Titel »Sexuelle Belästigung – Regeln für ihre Vorbeugung und Sanktion am Arbeitsplatz und in Lehrer-Lernende-Beziehungen« vom Kongress in Montevideo angenommen.
»Darin wird uns eine aktive Rolle zugestanden«, sagt Ana Aguilera. Seither haben die Gewerkschaften die Möglichkeit, aktiv zu werden, wenn eine sexuelle Belästigung angezeigt wird. Sie können nicht nur beantragen, dass der Vorfall untersucht wird, sondern haben auch das Recht, an dieser Untersuchung teilzunehmen. Dennoch: »Wichtig war vor allem die Informationsarbeit nach der Gesetzesannahme durch den Kongress«, sagt Ana Aguilera. Mit zahllosen Workshops, Bildungsseminaren und Gesprächsrunden sensibilisierten die Frauen des Sekretariats vor allem die Kolleginnen in den Einzelgewerkschaften. Ihr nächster Etappenerfolg: 2017 beschloss der Kongress das Gesetz über »Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen«. Das definiert bereits auf nationaler Ebene, was als Belästigung am Arbeitsplatz gilt.
Engagiert waren Uruguays Gewerkschafterinnen deshalb auch bei der Entstehung der Konvention. »An der schriftlichen Ausarbeitung waren wir zwar nicht direkt beteiligt«, erinnert sich Milagro Pau. »Aber unsere Delegation hatte sich bei der entscheidenden Konferenz vehement dafür eingesetzt, dass die Inhalte strenger und präziser formuliert wurden, als es ursprünglich von der Unternehmerseite in der ILO zugestanden wurde.«
Heute gebe es in rund 85 Prozent aller arbeitsrechtlichen Vereinbarungen in Uruguay die Klausel über Geschlechtergerechtigkeit sowie die Bestimmungen über geschlechtsspezifische Gewalt, resümiert Milagro Pau. Seit dem Amtsantritt des konservativen Präsidenten sei aber »das gesamte Spektrum der Arbeitsrechte bedroht«. Der Kampf werde sich verschärfen, denn die neue Regierung werde die Fortschritte der vergangenen Jahre beschneiden und versuchen, sie zurückzunehmen. Deshalb ist die ILO-Konvention nicht nur für die Gewerkschaften wichtig, darin sind sich die beiden Frauen vom Gewerkschaftssekretariat für Gender, Gerechtigkeit und Vielfalt einig. Sie ist auch für die feministischen Basisorganisationen ein wichtiges Instrument.
Autor: Jürgen Vogt lebt in Buenos Aires. Er berichtet für verschiedene Medien aus den lateinamerikanischen Ländern.
09/2020