Politische Leitplanken neu entwickeln
Homeoffice, systemrelevante Berufe, Umbrüche in der Industrie – die Vertretung der Arbeitnehmenden muss in der Pandemie von der Krise bis zur Transformation denken. Die entscheidenden Ansatzpunkte.
Ein Kommentar von Klaus Mertens, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Betriebsrats der ZF Friedrichshafen AG in Schweinfurt und unter anderem engagiert bei den "Transformateuren".
05/2020
Das Coronavirus beschleunigt Veränderungen, die als „Transformation“ noch weit weg zu sein schienen. Die betrieblichen Interessensvertretungen stellt das vor neue Herausforderungen. Vier Perspektiven:
Erstens: Digitalisierung
Die digitale Transformation der Arbeitsprozesse ist mit der Pandemie im Alltag der Beschäftigten angekommen. Das Homeoffice ist zum Normalfall geworden. Damit ist auch die Option einer zeit- und raumunabhängigen Arbeitsgestaltung zu einem Handlungsfeld betrieblicher Interessensvertretung geworden, dass mehr als Bildschirmrichtlinien und Datenschutzregeln zu bieten hat. Es geht um die Kernbereiche der Mitbestimmung in Sachen Arbeitszeit und Entlohnung.
Gleichzeitig tun sich hier auch neue Ungerechtigkeiten auf. Nicht jeder Arbeitsplatz ist homeofficetauglich. Das war schon immer klar. Dafür hat jetzt das Thema Zeitwohlstand in den Betrieben eine sehr materielle Bedeutung bekommen und das Feuilleton endgültig verlassen.
Zweitens: Sozialstaat reloaded!
Die deutsche Sozialstaatsdebatte hat sich in den letzten Jahren auf Fragen der sozialen Grundsicherung à la Hartz IV fokussiert und ist aus dem Blick der Stammbelegschaften geraten. Nun hat sich in der Pandemie der Blick auf den Sozialstaat und seine Leistungen deutlich geweitet: Erzieher_innen und Krankenpfleger_innen, Altenpfleger_innen und Busfahrer_innen, Leute vom Wertstoffhof und Lehrer_innen stehen als Berufsgruppen für Systemrelevanz und Repräsentant_innen eines modernen Sozialstaats. Diese Perspektive gilt es zu verfestigen und neben guten Löhnen und Arbeitsbedingungen ist auch für eine andere Sozial- und Gesellschaftspolitik zu streiten.
Drittens: Sozial-ökologische Transformation
Die Transformation vieler Branchen, allen voran die Automobilindustrie, bekommt einen neuen Schub, der die Orientierung an Klimagerechtigkeit und Ressourceneffizienz zur Maxime macht, beziehungsweise machen sollte. Der Lockdown, der die Nähe näher und die Ferne ferner werden ließ, hat gezeigt, wie eine andere Welt aussehen könnte. Die betriebliche Mitbestimmung, genau wie die Gewerkschaften, stehen hier vor einer doppelten Herausforderung. Die Dringlichkeit von Klimawandel und Ressourcenknappheit zwingen zu einem raschen Umsteuern, zu dem die Belegschaften eher weniger bereit sind. Hinzu kommt, dass dieses Umsteuern nicht immer als Konversion beschäftigungsneutral zu organisieren sein wird.
Hier sind die Betriebsrät_innen also einerseits Changemanager_innen gefragt, die zur Zukunftssicherung Veränderung treiben müssen, und andererseits diejenigen, die die Kämpfe um die Arbeitsplätze, auch jenseits der Transformation, führen sollen. In diesem Spannungsfeld Klarheit zu schaffen wird eine zentrale Aufgabe der gewerkschaftlichen Debatte der kommenden Monate.
Viertens: Kapitalismus – wie immer
Neben den Transformationsaspekten, die zum Teil krisenhaft aufscheinen, wird es in der Folge der Pandemie einerseits und einer klassischen Überakkumulation andererseits zu weiteren Krisenerscheinungen kommen. Die weltweiten Überkapazitäten beispielsweise im Fahrzeugbau werden zurückgefahren und Standorte geschlossen. Die Konsolidierung in einzelnen Branchen wird weitergehen, und viele Menschen werden ihren Arbeitsplatz verlieren.
Auch das wird die betriebliche Mitbestimmung und ihre Gremien stark fordern, aber hier wird klar, dass die komplexe Situation zwischen Transformationsprozessen einerseits und kapitalistischer Krisenbewältigung andererseits nichts mehr braucht wie politische Orientierung!
Gefragt: Politische Orientierung
Diese Orientierung speist sich nicht nur aus Qualifizierung und Debatte, sondern auch aus den zutiefst persönlichen Erfahrungen, die der und die Einzelne in der Pandemie machen. Dazu gehören:
- die Digitalisierung von Beteiligungsprozessen und
die Konsequenz von digitaler Meinungsäußerung - die Erfahrung mit dem Sozialstaat und seinen Institutionen
- die Erfahrung von Immobilität, ihrer digitalen Kompensation und dem Gewinn von Lebensqualität und -zeit.
- das – zumeist virtuelle – Erleben von kristallklarem Wasser in der Bucht von Venedig und der – hoffentlich realen – Erfahrung von sauberer Luft in unseren Städten
- die homöopathische Erfahrung von Konsumentzug
- die Handlungsfähigkeit und -geschwindigkeit von Politik, die im krassen Widerspruch zu den Zögerlichkeiten in der Klima- und Ressourcenpolitik steht.
Dies sind Ansatzpunkte, aus denen politische Leitplanken und Orientierung für betriebliche und gewerkschaftliche Akteure der Mitbestimmung abgeleitet werden können!
Klaus Mertens ist Politikwissenschaftler. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Betriebsrats der ZF Friedrichshafen AG in Schweinfurt, ist auch im Europäischen Betriebsrat tätig. Er engagiert sich bei den „Transformateuren“ (http://transformateure.org/home/), arbeitet
im Gesprächskreis Zukunft Auto Umwelt Mobilität (ZAUM) der Rosa-Luxemburg-Stiftung (https://www.rosalux.de/stiftung/gespraechskreise/zukunft-auto-umwelt-mobilitaet/) und bloggt zu Fragen der Transformation unter http://das-richtige-im-falschen.de/
Der Beitrag erscheint in den NORD I SÜD news II/2020 im Juni diesen Jahres.