Nachhaltigkeit und Menschenrechte im Welthandel - Sozialklauseln allein reichen nicht
Nur wenn die Weltwirtschaftsordnung nachhaltig reformiert wird, gibt es Chancen, die Einhaltung von Menschenrechten, Umweltschutz und internationalen Kernarbeitsnormen tatsächlich durchzusetzen, schreiben Merle Groneweg und Christoph Scherrer.
Ein Artikel aus der Broschüre Transformation weltweit (2020).
Heute ist es Unternehmen leicht möglich, zahlreiche Bestandteile der Produktion auszulagern. Denn mit den globalen Lieferketten gibt es ein weltweites Netzwerk von Organisationen, die die verschiedensten Prozesse und Tätigkeiten der Wertschöpfung übernehmen können. Damit einher geht der vielfach beschriebene „Wettlauf nach unten“: Die Produktion ist häufig dort am günstigsten, wo die menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen Standards am niedrigsten sind. Löhne und Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in den sogenannten Weltmarktfabriken entsprechen nur selten menschenwürdiger Arbeit. Das erleichtert es auch Unternehmen mit begrenzten Kapitalressourcen, auf lukrative Exportmärkte zu gehen. Das hat zu einem beeindruckenden industriellen Wachstum in einigen jener Länder geführt, die als Folge des europäischen Kolonialismus zuvor primär durch den Export von Agrar- oder Bergbauprodukten in die Weltwirtschaft integriert waren.
Die einseitig ausgerichtete Weltwirtschaftsordnung
Nichtsdestoweniger profitieren die Länder des Globalen Südens vergleichsweise wenig von der in diesen globalen Lieferketten generierten Wertschöpfung. Eine zentrale Ursache dafür ist die derzeitige Weltwirtschaftsordnung: Sie ist geprägt von der Vorherrschaft der Interessen ökonomisch starker Staaten und Unternehmen, begünstigt also die Marktmacht der transnationalen Konzerne. Dies macht sich in mehrfacher Weise bemerkbar und führt bisher dazu, dass der politische Handlungsspielraum für Länder des Globalen Südens stark eingeschränkt ist (siehe Infokasten Seite 36). Weltweit wird ein großer Teil der Menschen von wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Sicherheit ausgeschlossen.
Die Vorherrschaft der Interessen ökonomisch starker Staaten und Unternehmen macht sich in mehrfacher Weise bemerkbar und führt bisher dazu, dass der politische Handlungsspielraum und Entwicklungsmöglichkeiten für Länder des Globalen Südens eng begrenzt sind.
Die Vorherrschaft der Interessen ökonomisch starker Staaten und Unternehmen macht sich in mehrfacher Weise bemerkbar und führt bisher dazu, dass der politische Handlungsspielraum und Entwicklungsmöglichkeiten für Länder des Globalen Südens eng begrenzt sind:
Erstens versuchen vor allem die USA und die EU, mittels bi- und plurilateraler sogenannter Freihandelsabkommen sowohl die Interessen der bei ihnen ansässigen Konzerne durchzusetzen, als auch ihren eigenen Vorsprung gegenüber den Handelspartnern abzusichern. Auch wenn es oft anders dargestellt wird, bedeutet dies eine Abkehr vom Prinzip des Multilateralismus. Denn innerhalb der multilateralen Welthandelsorganisation (engl. WTO) ist es auch für große Wirtschaftsmächte schwierig, sich gegen zwischenstaatliche Allianzen durchzusetzen. In Verhandlungen über ein Abkommen mit einzelnen Ländern können sie ihre Größe besser zur Geltung bringen.
Das ist ein Grund, warum die Weiterentwicklung der gemeinsamen Regeln innerhalb der multilateralen WTO, wo jedes Mitgliedsland eine Stimme hat, ins Stocken gerieten. Im Jahr 2001 begann die sogenannte Doha-Runde, auch Entwicklungsrunde genannt. Die Mitgliedsländer verhandelten neue Regeln, die insbesondere Ländern des Globalen Südens wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen sollten. Eine Konfliktlinie dabei war und ist etwa der Schutz der Agrarmärkte in westlich industrialisierten Staaten u.a. durch Zölle und Subventionen auf der einen Seite und andererseits wenig Bereitschaft Industrie- und Dienstleistungszweige stärker zu liberalisieren. Bis heute kommen die Verhandlungen kaum voran, während seither an die 200 Handelsabkommen geschlossen wurden.
So zeugen, zweitens, die WTO-Regeln noch heute von der handelspolitischen Durchsetzungskraft der USA und der EU bei der Gründung der WTO und setzen enge Grenzen für die Möglichkeit der aufholenden Entwicklung.
Drittens ist neben den Handelsregimen die Weltbankgruppe ein bedeutender Eckpfeiler der Weltwirtschaftsordnung. Sie vergibt u.a. Kredite an Entwicklungsländer, die an Auflagen geknüpft sind und somit den politischen Spielraum einschränken. Auch hier findet sich die oben beschriebene Dominanz, die sich im Gegensatz zur WTO (1 Land eine Stimme) aber auch institutionell spiegelt, indem die größten Financiers mehr Entscheidungsmacht haben. Zu den Verlierern zählen Staaten wie Ghana, die unter dem Druck der von Weltbank bzw. Internationalem Währungsfonds (IWF) verordneten Strukturanpassungsprogramme ihre Märkte gegenüber der ausländischen Konkurrenz stark geöffnet haben. In der Folge hat Ghana keine Möglichkeit mehr, sich vor ausländischer Konkurrenz zu schützen oder die eigene Wirtschaft staatlich zu subventionieren – mit dem Ergebnis, dass das Land beispielsweise seine großen Tomatenernten nicht industriell verarbeiten kann. Stattdessen beherrscht italienisches Tomatenmark den Markt.
Viertens erhalten die Verlierer dieser Konkurrenz, seien es Staaten oder Gruppen innerhalb von Staaten, kaum Kompensation. So genannte Entwicklungshilfe, die häufig auch den Unternehmen des so genannten Geberlandes zu Gute kommt, ist kaum mehr als ein Tropfen auf heißem Stein. Im Verhältnis zu den Ausgangsbedingungen, den fortwährenden Benachteiligungen im Welthandel und der Schuldenlast ist sie völlig unzureichend, um aufholen zu können.
Der internationale Handel trägt zur Klimakatastrophe bei, er beschleunigt die Ausbreitung von Viren, erhöht den Druck auf lokale Umweltressourcen und führt zur Überausbeutung menschlicher Arbeitskraft.
Die negativen externen Effekte des heutigen Handelsregimes werden immer spürbarer und auch im Globalen Norden sichtbarer. Der internationale Handel trägt zur Klimakatastrophe bei, er beschleunigt die Ausbreitung von Viren, erhöht den Druck auf lokale Umweltressourcen und führt zur Überausbeutung menschlicher Arbeitskraft. Der Preis als zentraler Koordinierungsmechanismus einer Marktwirtschaft spiegelt diese gesellschaftlichen Kosten der Produktion und des Konsums nicht wider. Umweltauswirkungen bei der Produktion, dem Transport oder beim Konsum, wie etwa der Verbrauch von Boden und Wasser, Luftbelastung oder Elektroschrott, werden gar nicht oder kaum eingepreist. Wenig besser steht es um die sozialen Kosten. Gerade in den Wirtschaftszweigen, wo der Markteintritt sehr leicht ist – oder sehr leicht gemacht wird, weil beispielsweise ein informeller Sektor zugelassen wird – werden Menschenrechte und Arbeitsrechte häufig verletzt. Bekenntnisse zum Pariser Klimaabkommen sowie den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte werden nun zwar etwa in so genannten Nachhaltigkeitskapiteln in die EU-Handelsabkommen integriert, bleiben jedoch unverbindlich.
Schließlich werden die infrastrukturellen Vorleistungen in vielen Fällen nicht im Preis einer Ware oder Dienstleistung berücksichtigt. Markantes Beispiel ist eine der dynamischsten verlängerten Werkbänke der Bekleidungsindustrie, nämlich Bangladesch. Dem dortigen Staat fehlen die finanziellen Mittel für den Aufbau der Infrastruktur im Bereich Gesundheit, Bildung, Forschung, Straßenwesen und Wasserwirtschaft, die für eine erfolgreiche Aufwertung seiner Produktion innerhalb der Bekleidungswertschöpfungskette notwendig ist. Ein Grund ist, dass die transnationalen Konzerne als Einkäufer keine Steuern zahlen, die Gewinnmarge für die heimischen Produzenten zu gering ist und die Exportsteuer gesenkt wurde. Hier könnte es noch schlimmer kommen, weil die EU und die USA sie gern im Rahmen von Handelsverträgen ganz abschaffen möchten.
E-Commerce-Agenda als Türöffner der Liberalisierung
Die Abschaffung so genannter Exportbeschränkungen gehört weiterhin zu den zentralen Interessen der reichen Industriestaaten. So ist die EU-Kommission der Ansicht, dass die WTO-Regeln im Bereich Rohstoffe und Energie nicht ausreichen und auf Exportseite restriktiv seien. Um den in der EU ansässigen Industrien einen möglichst günstigen Zugriff auf Rohstoffe und Energie zu sichern, gehört es deshalb zur Strategie der EU-Kommission, mit ressourcenreichen Staaten wie Chile, Indonesien und Tunesien separate Energie- und Rohstoffkapitel in Handelsabkommen durchzusetzen.
So liegt Brüssel mit der indonesischen Regierung im Clinch. Diese hatte 2014 zum Beispiel ein Exportverbot von unverarbeitetem Nickel erlassen, um die Ansiedlung von weiterverarbeitender Industrie im Land zu fördern. Der EU-Kommission sind diese Maßnahmen ein Dorn im Auge. Sie übt nun auch mittels Einreichung einer WTO-Beschwerde Druck auf Indonesien aus.
Während hier also erklärtes Ziel ist, die letzten noch bestehenden Exportschranken einzureißen, wird an anderer Stelle verhindert, dass überhaupt welche errichtet werden. Seit 1998 gilt ein temporäres Verbot von Zöllen auf „elektronisches Übertragen“ für alle WTO-Mitgliedsstaaten. Dies muss jedoch in regelmäßigen Abständen in WTO-Ministerialerklärungen bekräftigt werden. Schwellen- und Entwicklungsländer möchten das Besteuerungsmoratorium überprüfen, da einerseits die Transaktionszahlen deutlich gestiegen sind und andererseits zahlreiche einst besteuerbare Dienstleistungen und Waren in Online-Services umgewandelt wurden. Unter anderem aufgrund des Widerstands von Indien und der Afrika-Gruppe innerhalb der WTO haben sich die WTO-Mitglieder nicht einigen können, Verhandlungen über ein gemeinsames E-Commerce-Abkommen aufzunehmen.
Stattdessen verhandeln seit 2019 insgesamt 82 Staaten – darunter die EU, USA und inzwischen auch China – über ein völkerrechtlich verbindliches Handelsabkommen. Hier droht die Gefahr, dass Regeln für einen großen Wirtschaftsraum geschaffen werden, aus dem andere Akteure so lange außen vorbleiben, bis sie sich diesen unterwerfen. Im Interesse der großen Tech-Konzerne geht es darum, den möglichen Regulierungsspielraum schon jetzt einzuschränken. Der „freie Datenfluss“ über Grenzen soll gesichert, Vorgaben zur lokalen Datenspeicherung oder der Offenlegung des Quellcodes sollen aus dem Weg geräumt werden. Datenschutz, und damit der Privatsphäre als grundlegendes Menschenrecht, wird von den verhandelnden Staaten unterschiedlich viel Bedeutung beigemessen.
Zivilgesellschaftliche Organisationen bezeichnen die E-Commerce-Agenda als „trojanisches Pferd“, das auf anderem Weg versucht, die Vorschläge der reichen Industriestaaten für weitreichendere Liberalisierung voranzutreiben.
Zivilgesellschaftliche Organisationen bezeichnen die E-Commerce-Agenda als „trojanisches Pferd“, das auf anderem Weg versucht, die Vorschläge der reichen Industriestaaten für weitreichendere Liberalisierung voranzutreiben. Auf WTO-Ebene haben die Länder des Globalen Südens diese so genannten Singapur-Themen bisher erfolgreich gestoppt. Zu ihnen zählen neben dem Abschaffen von weiteren Zöllen auch die Ausweitung des Schutzes geistigen Eigentums oder von Investitionen, die Liberalisierung verschiedener Dienstleistungen und der öffentlichen Beschaffung sowie ein Verbot aller Anforderungen für Technologie-Transfers.
Dabei wurden die Grundlagen für die bisher wohl erfolgreichsten nachholenden Länder gelegt, indem diese die Lehren von Friedrich List gegen die von David Ricardo beherzigten: Die Volksrepublik China hat sich gegenüber dem Weltmarkt gezielt selektiv geöffnet und nimmt es auch heute noch, wenn man den Klagen der deutschen Industrie trauen darf, nicht so genau mit dem geistigen Eigentum. Indem das Land die Zulassung von ausländischen Konzernen strikt reguliert und stattdessen nationale Alternativen entwickelt hat, verzeichnen chinesische Unternehmen gemeinsam mit US-amerikanischen Unternehmen nun 90 Prozent des Marktwerts der größten digitalen Plattformen. Hingegen liegt Europas Anteil hier bei 4 Prozent; Afrika und Lateinamerika kommen zusammen nur auf 1 Prozent.
Angesichts dieser Monopolstellung haben es kleinere wie später hinzukommende Unternehmen schwerer, auf dem Markt zu bestehen. Ohne Schutz vor der ausländischen Konkurrenz und der Möglichkeit staatlicher Subventionen, gelingt es den ehemals kolonialisierten Staaten nicht, Wirtschaftssektoren mit einer höheren Wertschöpfung aufzubauen. Ein Handelsregime der nachholenden Entwicklung würde den betroffenen Ländern mehr Spielraum lassen, die eigene Industrie zu fördern. Staatliche Unterstützung für Forschung und Entwicklung sowie Investitionen in die Bildung, wie in der Neuen Wachstumstheorie gefordert, sind wichtig, aber nicht ausreichend. Eine direktere Industriepolitik ist erforderlich, um strategisch wichtige Industrien oder sogar Schlüsselunternehmen zu unterstützen. Zugleich müssen transnationale Konzerne umfassender kontrolliert werden. Gegenwärtig können sie Staaten gegeneinander ausspielen und eine Strategie der Regulierungsarbitrage verfolgen, wie es auch das Vorantreiben der digitalen Agenda zeigt.
Aufgabe der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft
In den bisherigen internationalen Handelsverhandlungen haben sich die Gewerkschaften darauf konzentriert, Sozialklauseln zur Einhaltung internationaler Kernarbeitsnormen einzubringen. Zwar sind solche Klauseln mittlerweile in 85 regionalen Handelsabkommen verankert, doch ihre Wirkung ist sehr begrenzt. Das neue Abkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko (USMCA) will die Rechte mexikanischer Arbeiter_innen besser schützen. Deshalb verlangt es eine progressive Arbeitsrechtsreform, bevor der Vertrag unterzeichnet wird, und sieht ein beschleunigtes Verfahren bei der Verletzung von Kernarbeitsnormen vor.
Gleichwohl weist diese neue Sozialklausel ebenfalls die bisherig schon typischen Schwächen auf. Zum einen dient sie als Feigenblatt für die zentralen Vereinbarungen im Handelsabkommen, die die arbeitende Bevölkerung in allen drei Ländern schlechter stellt und insbesondere den industriepolitischen Spielraum Mexikos einschränkt. Zum anderen ist die Klausel Folge US-amerikanischer Machtausübung innerhalb eines regionalen Handelsabkommens und nicht Resultat einer multilateralen Verhandlungsrunde.
In einem zweiten Schritt sollten aus den vielfältigen Reformideen zur Weltwirtschaft vor allem jene aufgegriffen werden, die von den Gewerkschaften des Globalen Südens unterstützt werden.
Deshalb sollten Gewerkschaften wie auch andere zivilgesellschaftliche Akteure ihre berechtigte Forderung nach der Einhaltung internationaler Kernarbeitsnormen, Menschenrechten und Umweltschutz mit der Forderung einer allgemeinen Reform der Weltwirtschaftsordnung verbinden. In einem ersten Schritt sind alle derzeit zur Verhandlung anstehenden regionalen Freihandelsabkommen abzulehnen, denn sie stärken Konzernmacht. In einem zweiten Schritt sollten aus den vielfältigen Reformideen zur Weltwirtschaft vor allem jene aufgegriffen werden, die von den Gewerkschaften des Globalen Südens unterstützt werden. Dies verlangt nach einem umfassenden Dialog. Dessen Ergebnis sollte in die Europäische Union eingebracht werden, die neben den USA die bedeutendste Kraft in der weltwirtschaftlichen Regelsetzung ist. Die Verhandlungsführung der EU-Kommission kann über die nationalen Regierungen und über das Europaparlament beeinflusst werden. Beides verlangt eine stärkere Koordination unter den Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen in den EU-Mitgliedsländern.
Die Autor_innen:
Merle Groneweg ist freie Referentin bei PowerShift zu Rohstoff-, Mobilitäts- und Handelspolitik. Sie hat u.a. eine Analyse der neuen Energie- und Rohstoffkapitel in EU-Handelsabkommen veröffentlicht. Christoph Scherrer, Volkswirt und Politologe, ist Professor für „Globalisierung & Politik“ an der Universität Kassel, Sprecher des International Center for Development and Decent Work und Mitglied des Steering Committee der Global Labour University. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Internationalen Politischen Ökonomie, insbesondere die Steuerung des Weltmarkts im Sinne sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit.
Der Artikel erschien in der Broschüre, Transformation weltweit – für Gute Arbeit im digitalen und ökologischen Wandel, im Dezember 2020.