Lebensgrundlage in Gefahr: Megahafen bedroht traditionelle Gemeinden an brasilianischer Küste
Ein Text unserer Partnerorganisation Repórter Brasil.
26.02.2021 I Im brasilianischen Küstenbundesstaat Espírito Santo entsteht mit Unterstützung von ausländischem Kapital ein Mega-Hafen. Anwohner_innen befürchten enorme Auswirkungen für das lokale Ökosystem und das Ende der Lebensweise traditioneller Gemeinden.
Während die Gesundheitsbeamtin Quitéria Ferreira dos Santos die frisch gefangenen Fische misst, erklärt sie, wie das Leben in der Küstengemeinde Presidente Kennedy aussieht. „Hier ist alles miteinander verbunden. Die Ufergemeinden am Fluss und in der Lagune, die Quilombos (afrobrasilianische Gemeinden) mit ihren Plantagen und die Stranddörfer an der Küste.“ Der Bezirk liegt idyllisch im Süden des Bundesstaates Espírito Santo, fast an der Grenze zu Rio de Janeiro. Doch die Tage des Strandes und des harmonischen Lebens könnten gezählt sein. Denn: Ganz in der Nähe wird ein Großprojekt gebaut, das auf der eigenen Homepage als „Mega-Hafen-Industriekomplex“ vorgestellt wird. Finanziert wird der Porto Central von brasilianischem und internationalem Kapital.
Und es ist wahrlich ein gigantisches Projekt. In dem Hafen können Öltanker mit einer Länge von fast einem Kilometer einfahren – das entspricht zehn aufgereihten Fußballfeldern. Insgesamt wird der Hafen mehr als 2000 Hektar Platz beanspruchen. Das Gelände ist derzeit noch mit Stacheldraht abgeschirmt. Der Komplex wird auch einen eigenen Kanal haben, um Schiffe, Container und Kräne zu „parken“. Dafür wird der Hafen drei Kilometer in einen Landstreifen eindringen, der jetzt noch von Unterholz und Atlantischem Regenwald bewachsen ist. Bis 2006 lebten dort Kleinbäuer_innen, die letztendlich ihr Land für das Projekt verkauften.
Der Fischfang ist ein hart verdienter und immer mehr bedrohter Lebensunterhalt.
Verheerende Auswirkungen für das Ökosystem
Die Auswirkungen für die Umwelt erschrecken sogar einen Biologen, der von Porto Central damit beauftragt wurde, Studien an der Mündung des Flusses Itabapoana durchzuführen. Der Forscher, der unerkannt bleiben möchte und für das Umweltanalyseunternehmen Econservation arbeitet, sagte Repórter Brasil: „Entlang des Flusses werden Wärmekraftwerke gebaut, um die Infrastruktur des Hafens zu nutzen. Die Auswirkungen auf das lokale Ökosystem werden immens sein.“
Laut José Maria Vieira de Novaes, CEO von Porto Central, liege die Anfangsinvestition bei umgerechnet rund 600 Millionen Euro. Der Hauptaktionär ist das brasilianische Betonunternehmen Polimix, die Muttergesellschaft der Holding TPK Logística. Ein weiterer Partner war der Hafen von Rotterdam. Jedoch zog sich der größte Hafen Europas bald aus dem Projekt zurück, da das Geschäft unrentabel war. Ebenfalls Teil des Konsortiums ist das niederländische Bauunternehmen Van Oord. Dieser Konzern war auch an dem Bau des Tiefwasserhafens Porto de Suape imn nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco beteiligt. Aufgrund von Umweltverbrechen gegen angrenzende Gemeinden wurde der Mega-Hafen 2017 bei den Vereinten Nationen angezeigt. Mehrere Verstöße gegen die Umwelt wurden von Repórter Brasil aufgedeckt.
Nach Angaben des CEO wird der Porto Central-Hafen stufenweise eingeweiht. Im ersten Schritt wird er dazu dienen, ein wichtiges Gut einzuführen: Öl, das an Orten wie dem Campos-Becken gefördert wird. Das Campos-Becken ist ein Meeresgebiet im Südatlantik von rund 115.000 Quadratkilometern Ausdehnung mit großen Erdöl-Lagerstätten, die von Unternehmen wie Petrobras in beträchtlicher Tiefe gefördert werden. Im Folgenden sollen im Hafen Öl- und Gasraffinerien sowie Werften für Schiffe eingeweiht werden, um bereits versteigertes, aber noch nicht abgebautes Erdöl transportieren zu können.
„Die Aufgabe besteht nun darin, Verträge mit den ausländischen Unternehmen zu unterzeichnen, die ins Geschäft eingesteigen wollen“, erklärt der CEO von Porto Central. Er könne allerdings nicht verraten, um welche Unternehmen es sich handelt. Ferner erklärt der Unternehmer, er plane „in seinem großen Industriepark“ den Bau mehrerer Fabriken und Einrichtungen durch andere Unternehmen, einschließlich Wärmekraftwerke.
„Schon der Gedanke an Schornsteine, die Rauch in die Luft blasen, ist erschreckend. Und in dem Kanal werden sich Öltanker aneinanderreihen und einen Riss durch die Landschaft ziehen“, beklagt die Kunsthandwerkerin Rosângela Maria da Rocha. „Ich bin in dieser Mangrove geboren und aufgewachsen. Wenn ich etwas anderes sage, lüge ich“, sagt die 29-jährige Heloísa dos Santos Silva, die im Gebäude eines einfachen Fischhändlers am Ufer des Flusses sitzt. Mit dem Licht einer einzigen Lampe reinigt sie Graue Drückerfische, mit der Geschwindigkeit einer Person, die seit über 15 Jahren in der Fischerei arbeitet. „Die gesamte Gemeinde Barra do Itabapoana lebt von diesem Fluss und der Mangrove.“
Bautrümmer und Straßenreste verunstalten die Strände südlich des Hafens Porto de Acú. Eine der sichtbarsten ökologischen Folgen der Mega-Baustelle.
Die Hafengesellschaft behauptet, alle notwendigen Umweltlizenzen vorweisen zu können. Laut der Umweltbehörde Ibama gebe es jedoch keine Erlaubnis für den sogenannten Vegetationsabbau. Ein Präsidialdekret des damaligen Präsidenten Michel Temer beschleunigte die Erlaubnis zur Entwaldung und nannte den Hafen eine „Infrastruktur von nationalem Interesse“.
Selbst Porto Central gestand ein, dass das Projekt die Fischerei in der Region beeinträchtigen wird. In einer Broschüre, die zu Beginn des Projekts verteilt wurde, erklärt das Unternehmen, dass der Megahafen die Arbeit der Fischer_innen von Presidente Kennedy und der benachbarten Gemeinden Marataízes und São Francisco do Itabapoana direkt beeinflussen wird. Im Gegenzug versprachen Hafenvertreter_innen, die Fischer_innen zu schulen und bei den Bauarbeiten anzustellen.
Fortschritt für wen?
Für den Bürgermeister von Presidente Kennedy, Dorlei Fontão, bestehe kein Grund zur Sorge über die Auswirkungen auf die Gewässer und die von ihnen abhängigen Bevölkerungsgruppen. Der Grund: In der Gemeinde gebe es schlicht keine Fischer_innen. „Was man Strand sieht, sind ein paar Gauner, die nicht wissen, wie man eine Leine an den Haken legt“, sagt er. „Hier gibt es nur noch die Häuser der Fischerkolonie. Man wird hier nicht einen Fischer finden.“
Wenn es nach Fontão ginge, könnte der Hafen „schon morgen“ in Betrieb genommen werden. Außerdem sagt er Repórter Brasil, dass schon bald Traktoren über das gesamte Gebiet fahren werden, um den Hafenkanal auszuheben. Der Politiker sitzt in seinem Büro, die Ellbogen hat er über den Tisch gebeugt. Wenn er spricht, faltet er seine Handflächen so, als ob er es satt hätte, immer wieder dasselbe zu sagen. Das Fischen, bekräftigt er, trage überhaupt nichts zu der Gemeinde bei. Porto Central sei eine große Chance für die Menschen. „Es wird Einkommen bringen, Unternehmen, all das“, fügt er hinzu. Details nennt er jedoch nicht.
„Die Politiker und das Hafenpersonal sagen, dass der Hafen ein Fortschritt sein wird. Aber was sie hier tun? Das Meer vom Fischer, den Fluss vom Ufervolk, den Strand und die Natur von uns zu entfernen“, sagt die 65-jährige Maria Auxiliadora Araújo, bekannt als Dona Dora, während sie in einem Schaukelstuhl sitzt. In ihrem Wohnzimmer finden sich überall handgemachte Blumen aus Fischschuppen, Zweigen und Schneckenhäusern. „Wir leben hier nicht vom Fortschritt, sondern von dem, was das Meer uns gibt.“
Laut Novaes, CEO von Porto Central, wird sich der Fortschritt auch bei den Arbeitsplätzen bemerkbar machen. 4000 Stellen sollen entstehen, von denen 70 Prozent lokale Arbeitskräfte sein sollen. Die Bewohner_innen sind jedoch weniger zuversichtlich. „Wird es Arbeit geben? Ja für einige, aber für die meisten nicht“, kritisiert Rosângela Maria da Rocha, Sekretärin der Vereinigung der Kunsthandwerker des Meeres.
Für die Fischer scheint das Ende ihrer Lebensgrundlage bereits besiegelt. „Ich fische, seit mir die ersten Zähne gewachsen sind. Dieser Hafen, von dem sie sich so viel versprechen, wird das Ende des Fisches sein. Das Ende des Fischens. Wie sollen wir mit einem Haufen Schlepper-, Öl- und Frachtschiffe arbeiten?“, sagt der 66-jährige Valdecir, der am Ufer des Flusses lebt. Der Fischer Haroldo dos Santos stimmt zu: „Mit dem Hafen werden sie als erstes unsere Boote verbieten“. Alfelino Batista, ein Zimmermann, der von seinem Vater lernte, wie man Boote baut, ist sich sicher, dass er nicht mehr fischen kann, sobald Porto Central fertiggestellt ist.
„Bei uns kommt nichts an“
Wenn man den Bewohnern_innen zuhört, merkt man schnell, dass sie skeptisch gegenüber den Versprechungen sind, ihr Leben zu verbessern. Das hat einen Grund: Bereits im Jahr 1999 erhielt die Stadtverwaltung von Presidente Kennedy Entschädigungen für den Ölabbau in der Region. Die Kleinstadt hat das vierthöchste Pro-Kopf-Einkommen in Brasilien und erhält die landesweit höchsten Öl-Förderentschädigungen. Nach Angaben der Nationalen Ölagentur sind es umgerechnet rund 24 Millionen Euro pro Jahr – ein hoher Betrag für eine Stadt mit 10.000 Einwohnern. Aber das Ölgeld scheint nicht in die unbefestigten, oft überfluteten Straßen zu fließen und schon gar nicht zu den Menschen. „Die Förderentschädigungen kommen nicht bei uns an, das ist unser Gefühl“, sagt Efigênia Alves Peris, Präsidentin der Vereinigung des Quilombos von Cacimbinha und Boa Esperança. Quilombos waren zur Kolonialzeit Niederlassungen geflohener Sklaven. Heute bestehen sie im ganzen Land als selbstorganisierte, afrobrasilianische Gemeinschaften weiter.
Flussdörfer und Quilombos sind auch wegen des Hafens Porto do Açu skeptisch. Dieser wurde 2013 in der Gemeinde São João da Barra gebaut, 70 Kilometer von Presidente Kennedy entfernt. „Was die Leute über Porto Central berichten, haben auch wir damals gehört und nichts wurde geliefert“, erinnert sich der Schreiner Batista. „Sie versprachen Beschäftigung, sie versprachen Kurse. Aber nachdem fertig gebaut war, stellten sie nur Leute von außerhalb ein.“ Er selbst arbeitete kurzfristig bei den Bauarbeiten des Hafens: „Ein schrecklicher Job, sie haben schlecht bezahlt, sie haben die Lohnzahlungen verzögert...Wir wussten nicht einmal, was wir bauen. Das war Sklavenarbeit, aber wir brauchten das Geld.“
Vertreter des Porto do Açu-Hafens erklären gegenüber Repórter Brasil, dass „strikt die Arbeitsgesetzgebung eingehalten wurde“ und sie versuchen, lokale Arbeitskräfte einzustellen. Viele Bewohner_innen erklärten jedoch, dass die meisten „guten Jobs“ für Menschen von außen bestimmt sind. Porto do Açu wurde ursprünglich vom deutschstämmigen Unternehmer Eike Batista konzipiert und war Gegenstand von Korruptionsermittlungen, in dessen Folge der ehemalige Gouverneur von Rio de Janeiro, Sérgio Cabral, zu 198 Jahren Haft verurteilt wurde. Die Ermittlungen deuten darauf hin, dass Batista Schmiergelder zahlte, um die Enteignung von Grundstücken in São João da Barra zu erleichterten und so das Projekt voranzubringen. Heute teilen sich das brasilianische Logistikunternehmen Prumo Logística und der europäische Hafen Antwerpen das Management des Hafens.
Die Fischer_innen von Presidente Kennedy sind verärgert darüber, dass die vom Porto do Açu-Hafen kommenden Frachter bereits jetzt Fische erschrecken und es so zunehmend schwieriger machen, vom Fischfang zu leben. „Ich möchte nicht, dass mein Sohn ein Fischer wird“, hört man immer wieder. Ana Maria Almeida da Costa, Professorin für Umweltauswirkungen in Rio de Janeiro, untersucht die sozioökologischen Auswirkungen des Porto do Açu-Hafens. Sie glaubt, dass durch das Projekt die Unsicherheit gewachsen sei und sich Arbeitsbedingungen verschlechtert hätten: „Es gibt mehrere Berichte über Verstöße gegen Arbeitsrecht und Episoden, die als Sklavenarbeit eingestuft werden können.“ Costa betont, dass Wirtschaftsprüfer_innen diesen Fällen nicht nachgegangen seien. „Der Hafen wurde über Nacht eingeweiht und das Land von rund 1500 Familien von Kleinbauern und Fischern auf brutale und gewalttätige Weise enteignet.“ Für die Professorin scheint sich nun in Porto Central zu wiederholen, was in Açu passiert ist. „Aufgrund der mangelnden Transparenz des Hafens werden die Bewohner die Größe des „Monsters“ erst dann bemerken, wenn es vollständig erscheint“, sagt sie.
Heiligtum im Industriegebiet
In Presidente Kennedy, etwa vier Kilometer vom Strand entfernt, wird der zentrale Bereich des Hafens liegen. Eine unbefestigte Straße, gesäumt von Kakteen und Sträuchern, führt zum Heiligtum der Nossa Senhora das Neves. Dieses wurde im frühen 17. Jahrhundert von den Jesuiten erbaut. Hier lebt die 58-jährige Jovelina Alves Peris, die sich seit 18 Jahren um das Heiligtum kümmert.
Der Verkauf des Gebiets begann im Jahr 2008, als die Firma Ferrous Resources do Brasil, Eigentümer von Eisenerzminen im Bundesstaat Minas Gerais, das Gelände Stück für Stück erwarb – um es schließlich an Porto Central zu verkaufen. „Direkt nachdem das Gelände verkauft worden war, rollten die Traktoren an, um die Häuser niederzureißen“. Damals plante das Bergbauunternehmen noch den Bau eines eigenen Hafens und einer eigenen Pipeline für den Transport nach Minas Gerais.
Im Modell des futuristischen Megahafens Porto Central wird dem Heiligtum zwar ein Platz zwischen den Industriegebäuden eingeräumt. Allerdings befürchtet Jovelina, dass die Kirche irgendwann vom Meer verschluckt wird. „Sie werden das Land bis zu unserer Haustür zerschneiden.“
Autorinnen: João Cesar Diaz
Übersetzung/Redaktion Februar 2021: Niklas Franzen
Hinweis: Es handelt sich um eine kontextualisierte Übersetzung mit zusätzlichen, erklärenden Informationen. Der Originaltext erschien am 19.06.2020.
Zum Weiterlesen:
https://www.npla.de/thema/repression-widerstand/quilombos-orte-der-selbstermaechtigung/
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1137266.brasilien-auf-bolsonaros-abschussliste.html
Diese Reportage wurde mit Unterstützung des DGB-Bildungswerk BUND im Rahmen des Projekts Gewerkschaften in Lateinamerika stärken – Ungleichheit bekämpfen produziert und aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert. Für den Inhalt der Reportage ist ausschließlich Repórter Brasil verantwortlich.
Übersetzung und Redaktion wurden gefördert von Engagement Global mit Mitteln des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.