Lateinamerika: Gewerkschaften kämpfen gegen unterlassene Schutzleistung
Covid 19, Armut, neoliberale Agenden, Gewalt - die Herausforderungen für Gewerkschaften sind immens. Jetzt ziehen sie vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag
Líbia Bellusci fällt es schwer, über die Zustände im brasilianischen Gesundheitssystem zu sprechen. Die 36-Jährige hat miterlebt, wie Schwerkranke auf Stühlen schlafen, weil keine Krankenhausbetten mehr frei sind. Wie Patient_innen über Stunden im Krankenwagen ausharren, bis sie versorgt werden können. Und wie niemand mehr die Leichen holen kommt, weil die Stadt nicht mehr weiß, wohin mit all den Corona-Toten.
Bellusci arbeitet als Krankenschwester an der staatlichen Klinik Getúlio Vargas in Rio de Janeiro und ist Vizepräsidentin der Gewerkschaft Sindicato dos Engermeiros do Rio de Janeiro. Per Zoom erzählt sie, dass zu den psychischen Belastungen nun auch noch finanzielle Sorgen hinzukommen. Wie viele ihrer Kolleg_innen hat sie seit anderthalb Monaten keinen Lohn mehr erhalten. „Viele von uns warten sogar schon seit drei Monaten auf ihr Geld“, sagt Bellusci. „Wir werden weder bezahlt noch ausreichend vor einer Ansteckung geschützt.“ Schon zu Beginn der Krise im März hatte die Gewerkschafterin Schutzmaßnahmen für die Beschäftigten im Gesundheitssystem gefordert. Doch auf ihren Hilferuf hat weder die Kommune, noch die Landesregierung in Brasilia reagiert. Bis heute warten Bellusci und ihre Mitstreiter_innen auf ein Antwortschreiben.
In der Zwischenzeit ist Brasilien zu einem der Corona-Hotspots weltweit geworden. Jeden Tag sterben etwa 1.000 Menschen an den Folgen der Virusinfektion, jeden Tag stecken sich Zehntausende neu an. Für die Bevölkerung ist es zum Teil unmöglich, sich auf Covid-19 testen zu lassen. Selbst für Mitarbeiter_innen im Krankenhaus, berichtet Bellusci, gebe es so gut wie keine Tests. Es fehlten auch Betten, Beatmungsgeräte, Sauerstoff.
Dafür verantwortlich macht Líbia Bellusci nicht nur korrupte Lokalpolitiker, bei denen dringende Corona-Gelder versickert sein sollen, sondern vor allem Jair Bolsonaro. Der brasilianische Präsident verharmlost das Coronavirus gerne als gripezinha, als kleine Grippe, bezeichnet Gouverneure, die eine Ausgangssperre verhängen, als „geisteskrank“. Die Wirtschaft hat er gegen den Willen vieler Gouverneure wieder hochgefahren.
„Bolsonaro stellt die Interessen der Wirtschaft über Menschenleben“, sagt Marcio Monzane. Der 46-Jährige ist Regionalsekretär von UNI Americas mit Sitz in Uruguay. Die Gewerkschaft vertritt vier Millionen Arbeitnehmer_innen in ganz Lateinamerika. Die in Brasilien habe es jedoch besonders hart getroffen, sagt Monzane am Telefon. „Mit Jair Bolsonaro ist ein Präsident an der Macht, der von Anfang klar gemacht hat, dass er nichts von Arbeitnehmerrechten hält.“ Tatsächlich hat der Präsident die Unternehmen per Dekret davon befreit, ihren Angestellten den Lohn auch in der Krise zahlen zu müssen. Außerdem hat Bolsonaro Gelder für das Sozialprogramm Bolsa Família gekürzt, von dem gut 13 Millionen Familien leben.
Die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik hat im Juli geschätzt, dass die Zahl der Menschen in Lateinamerika, die in Armut leben, bis Ende des Jahres um 45 Millionen steigen wird. Damit hätte dann mehr als jede_r Dritte der insgesamt 620 Millionen Bewohner_innen nicht genug zum Leben. Ähnlich düster sieht es bei der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen aus. Die Expert_innen von IWF und Weltbank glauben, dass die Wirtschaftsleistung in der Region 2020 um 9,4 Prozent schrumpft. Gewerkschafter Monzane können diese Zahlen nicht überraschen. „Natürlich hat Corona die Situation für die Arbeitnehmer verschlechtert. Aber es wäre falsch, jetzt alles auf Corona zu schieben.“
Seit Jahren führten die Gewerkschaften einen Abwehrkampf gegen Regierungen mit neoliberaler Agenda, sagt Monzane. Gegen Macri in Argentinien, Piñera in Chile, Duque in Kolumbien. In vielen Ländern liege der Anteil der informellen Arbeit immer noch bei über 50 Prozent. „Wie sollen wir die Situation der Arbeiter verbessern, wenn die rechten Regierungen noch nicht mal mit uns reden?“
Davon kann auch Francisco Maltés ein Lied singen. Maltés ist seit 40 Jahren Mitglied in Kolumbiens größtem Gewerkschaftsverband CUT. Der 60-Jährige hat miterlebt, wie unter dem ultrakonservativen Präsidenten Álvaro Uribe von 2002 bis 2010 regelrecht Jagd auf Kolleg_innen gemacht wurde. „In diesen acht Jahren wurden 500 Gewerkschaftsführer ermordet und zahlreiche Organisationen aufgelöst“, berichtet Maltés. „Heute wiederholt sich die Geschichte.“
Wer sich für Frieden und soziale Gerechtigkeit einsetzt, lebt in Kolumbien äußerst gefährlich. Das Land gehört – wie in Lateinamerika auch Brasilien und Honduras – laut dem Globalen Rechtsindex des Internationalen Gewerkschaftsbundes auch 2020 zu den zehn Ländern weltweit, die die Rechte von Gewerkschafter_innen am krassesten verletzen. Über Arbeitnehmerrechte verhandle die aktuelle Regierung des Konservativen Iván Duque gleich gar nicht, sagt Maltés. „Wenn wir über den Schutz von Arbeiterrechten reden möchten, werden wir nicht empfangen.“ Stattdessen habe der Präsident – ähnlich wie Bolsonaro in Brasilien – unter anderem den Kündigungsschutz temporär außer Kraft gesetzt. Francisco Maltés sieht darin einen Verstoß gegen die Verfassung des Landes. „Duque hat Corona ausgenutzt, um lästige Punkte im Arbeitsrecht auszuhebeln.“ Die Folgen, da ist sich Maltés sicher, müssen die Armen tragen. Tatsächlich war im Juni bereits jeder fünfte Mensch in Kolumbien arbeitslos – doppelt so viele wie ein Jahr zuvor.
Es kann auch anders gehen. In Argentinien etwa hat der seit neun Monaten regierende Peronist Alberto Fernández mit seinem rigorosen Lockdown das Virus gebändigt und durch zügige Hilfsmaßnahmen die wirtschaftliche Not seiner Landsleute einigermaßen auffangen können. Trotzdem könnten in diesem Jahr auch in Argentinien insgesamt 720.000 Jobs verloren gehen, schätzt die Weltgesundheitsorganisation. Gewerkschafter Marcio Monzane von UNI Americas lobt die Art, wie der argentinische Präsident durch die Krise führt: „Er nimmt nicht nur die sozialen Folgen der Krise ernst, sondern auch das Virus – im Gegensatz zu Bolsonaro.“
Gegen dessen Regierung hat UNI Americas zusammen mit anderen Gewerkschaften Ende Juli Klage beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingelegt: wegen unterlassenem Schutz von einer Million Beschäftigten im Gesundheitssektor. Die Anklage lautet Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch Krankenschwester Líbia Bellusci aus Rio de Janeiro unterstützt die Klage. „Es ist wichtig, dass Bolsonaro zur Rechenschaft gezogen wird. International, und eines Tages hoffentlich auch in Brasilien.“
Autor: Ralf Pauli ist Journalist, er lebt in Berlin und ist immer wieder in Lateinamerika unterwegs
09/2020