Green Jobs in Brasilien: Soziale Ungleichheit muss bekämpft werden
Trotz der verheerenden Politik der Regierung Bolsonaro gibt es in Brasilien durchaus schon „Green Jobs“. Aber weder ist das Potenzial ausgeschöpft, noch sind diese Arbeitsplätze automatisch auch „Decent Work“. Nelson de Chueri Karam zeigt auf, wie der Weg zu einer neuen ökologischen und sozialen Agenda aussehen könnte.
Ein Artikel aus der Broschüre Transformation weltweit (2020).
Im Brasilien unter Präsident Bolsonaro kommen beide zusammen: Verbrechen gegen die Natur und gegen die Menschlichkeit. Die Regierung verschärft mit ihrer Arbeits- und Sozialpolitik die soziale Ungleichheit, sie weigert sich, Hunger und Armut zu bekämpfen, für Beschäftigung und Gute Arbeit zu sorgen. Sie baut Arbeitnehmerrechte ab, schwächt die Gewerkschaften und verhindert Tarifverhandlungen: Die Räume für den sozialen Dialog werden eng. Und sie vernachlässigt den Umweltschutz, bestreitet, dass die Menschheit den Klimawandel verursacht, zerstört Ökosysteme, brennt Wälder nieder und vernichtet auch hier Arbeitsplätze.
Diese systematische Zerschlagung macht fassungslos. Denn bis vor wenigen Jahren konnte Brasilien zurecht stolz darauf sein, die Arbeitslosigkeit und den Anteil informeller Beschäftigungsverhältnisse verringert zu haben. Der Mindestlohn und das Einkommen aus Arbeit wuchs. Millionen Familien befreiten sich aus der Armut.
Angesichts dieser mehr als widrigen Lage, der Rückschläge und einer bis dato unvorstellbaren Krise des öffentlichen Gesundheitssystems müssen die brasilianischen Gewerkschaften das Zusammenspiel von Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt neu definieren. Widersprüche sind aufzulösen: zwischen dem Reichtum an Biodiversität und der sozialen Armut, der „sauberen“ Produktion mancher Branchen und den „schmutzigen“ Arbeiten, dem überwältigenden Angebot an natürlichen Ressourcen und der Ernährung mit industriellen Fertigprodukten.
Was bedeutet „Green Job“?
Zwischen Juni und August 2020 lag die Arbeitslosenquote in Brasilien bei 14,4 Prozent. Damit waren etwa 14 Millionen Menschen arbeitslos. Dieser höchste Wert seit 2012 ist nur teilweise der Covid-19-Pandemie und dem Ausbleiben wirksamer Gegenmaßnahmen geschuldet. Eine Beschäftigungspolitik oder ein Bestreben der Regierung, die soziale Ungleichheit zu überwinden, war auch zuvor nicht erkennbar. Ohne das ist jedoch ein Wirtschaftswachstum, das gute Arbeitsplätze bringt, kaum vorstellbar. Aber die Lage muss nicht hoffnungslos sein. In der Gewerkschaftsbewegung gibt es Vorschläge, wie die Arbeitswelt mit den Belangen des Umweltschutzes in Einklang gebracht, wie Beschäftigungspolitik mit nachhaltiger Entwicklung verknüpft werden und die Produktion an den Grenzen und Potenzialen der Umwelt ausgerichtet werden kann.
Hier beginnt die Debatte über Arbeitsplätze im Bereich Umweltschutz. Der Begriff – manche sprechen auch von „Green Jobs“ oder „nachhaltigen Arbeitsplätzen“ – ist abstrakt. Denn wie können wir messen, wie „grün“ ein Arbeitsplatz wirklich ist?
Es gibt bereits unterschiedliche Ansätze, den Begriff zu definieren, zu schätzen, wie viele Arbeitsplätze im Bereich Umweltschutz vorhanden sind und welches volkswirtschaftliche Potenzial sie entfalten können.
Nach Untersuchungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) etwa könnten durch eine wirksame Dekarbonisierung der brasilianischen Wirtschaft bis 2030 zusätzlich 7,1 Millionen Arbeitsplätze entstehen. Die ILO definiert „Green Jobs“ über die Wirtschaftszweige, in denen sie angesiedelt sind. Zugleich verknüpft sie den Begriff mit dem Begriff „Decent Work“, der guten Arbeit unter menschenwürdigen Bedingungen. Denn nachhaltig allein reicht nicht: Durch Arbeitsverträge und Arbeitnehmerrechte, durch die Achtung der Menschenrechte, Gewerkschaften, Tarifverhandlungen und soziale Sicherungssysteme ist sicherzustellen, dass menschenwürdige Arbeitsbedingungen herrschen.
Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Gewerkschaften in Brasilien (DIEESE) hat den von der ILO definierten Begriff aufgegriffen und mit anderen Ansätzen kombiniert. Mit dem Ziel, Indikatoren für Brasilien zu definieren, zogen die Forscher_innen neben den Wirtschaftszweigen auch Berufsgruppen heran, die für den Umweltschutz arbeiten. Diese Methode verbindet die Ergebnisse von Muçouçah (2009) und Caruso (2010). Die analysierten Daten stammen aus der RAIS-Statistik, einem Register, an das die brasilianischen Unternehmen ihre Beschäftigtenzahlen melden. In einem ersten Schritt wurden die von Muçouçah benannten Branchen ausgewählt, das sind diejenigen Wirtschaftszweige, die zur Verringerung der Emissionen, zur Verbesserung oder zum Erhalt der Qualität der Umwelt beitragen. In diesen Umweltbranchen werden die Berufe unterteilt in „Tätigkeiten im Bereich Umweltschutz“ und „unterstützende Tätigkeiten im Bereich Umweltschutz“.
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass 2018 etwa 3,1 Millionen Beschäftigte im Bereich Umweltschutz tätig waren.
Dieser Anteil hat sich selbst während des Rückgangs der Wirtschaftsleistung zwischen 2015 und 2017 nicht verändert. Berücksichtigt sind ausschließlich abhängig Beschäftigte mit gemeldetem Arbeitsvertrag. Daten für informell Beschäftigte, die ohne Arbeitnehmerrechte und Sozialversicherungsschutz tätig sind, liegen nicht vor und konnten daher nicht berücksichtigt werden.
Im Jahr 2018 fanden sich 54,7 Prozent der Arbeitsplätze in der Umweltbranche im begüterten Südosten des Landes, also in den Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro, Minas Gerais und Espírito Santo.
In den anderen Regionen besteht noch enormes Wachstums-potenzial, auch wenn die Statistiken schon 2008 einen steigenden Anteil im Nordosten verzeichneten, der traditionell das „Armenhaus Brasiliens“ darstellt. Der Zuwachs war vor allem dem Ausbau erneuerbarer Energien, vor allem von Wind- und Solarenergie, zu verdanken.
Kombination mit dem Kampf gegen soziale Ungleichheit
Festzuhalten ist, dass der Reichtum an natürlichen Ressourcen und die Größe des brasilianischen Arbeitsmarkts ein enormes Potenzial für Arbeitsplätze im Bereich Umweltschutz bieten. Die Studie zeigt aber auch: Grüne Arbeitsplätze allein reichen nicht. Es muss gleichzeitig die soziale Ungleichheit bekämpft werden.
Die Löhne im Bereich Umweltschutz liegen unterhalb des allgemeinen Lohnniveaus. Für unterstützende Tätigkeiten im Bereich Umweltschutz wurden 2018 nur 83 Prozent des Durchschnittslohns gezahlt. Weit höher dürfte der Unterschied ausfallen, wenn die informell Beschäftigten, die statistisch nicht erfasst werden, eingerechnet würden.
Ungleichheit herrscht auch zwischen den Geschlechtern. Aus den Daten geht hervor, dass der Frauenanteil in der Umweltbranche im Jahr 2018 bei nur 19 Prozent lag, während die Frauenquote auf dem Arbeitsmarkt insgesamt 44 Prozent betrug. Im Durchschnitt verdienten Frauen im Bereich Umweltschutz 13,1 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen.
Damit Arbeitsplätze im Bereich Umweltschutz zur Stärkung des Arbeitsmarkts beitragen, ist eine Verknüpfung von Umweltverträglichkeit und menschenwürdiger Arbeit also unabdingbar, ist das Fazit der DIEESE-Studie. Und hier sehen die Expert_innen noch einiges zu tun, denn der Anteil der Beschäftigten mit Schutzrechten in der Umweltbranche ist geringer. Doch auch insgesamt sind nur knapp zwei Drittel Beschäftigte mit Schutzrechten. Also Arbeitnehmer_innen, die den Arbeitsgesetzen in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Dienst unterliegen oder einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen.
Auch die Arbeitszeiten in der Umweltbranche zeigen, dass die Qualität der Arbeit zu wünschen lässt. Dabei sind in der brasilianischen Umweltbranche sowohl erhebliche Unterschreitungen der Regelarbeitszeit (Unterbeschäftigung) als auch Überschreitungen der gesetzlichen Höchstarbeitszeit üblich. Hier sind Gewerkschaften gefragt: Damit Arbeitsplätze im Bereich Umweltschutz eine wirkliche Alternative darstellen, müssen sie die Einhaltung der Arbeitszeiten überwachen und gute Arbeitsbedingungen vereinbaren.
Die Rolle der Gewerkschaften
Auch wenn nur für die Hälfte der brasilianischen Beschäftigten Tarifverträge gelten, waren und sind Tarifverhandlungen ein wichtiges Instrument gewerkschaftlichen Handelns. Das gilt insbesondere heute angesichts der Gesetzesreformen, mit denen die Bedeutung der Tarifverhandlungen geschwächt werden soll.
Die Themen Nachhaltigkeit und Umwelt sind in Tarifverträgen bisher kaum berücksichtigt. 2019 enthielten 466 Tarifvereinbarungen Klauseln zu Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Das sind gerade einmal 1,5 Prozent der 31.436 Vereinbarungen, die bis Januar 2020 in Kraft und bei der zuständigen staatlichen Stelle registriert waren.
Einschlägige Bestimmungen finden sich vor allem in Tarifverträgen des verarbeitenden Gewerbes. An erster Stelle steht die Nahrungsmittelindustrie mit 265 Klauseln, gefolgt vom Baugewerbe, der Möbel- und Metallindustrie, dem Maschinenbau und der Elektroindustrie. Im Dienstleistungssektor finden sich 103 Klauseln, vor allem bei selbstständigen Gewerbetreibenden, im Transportwesen und im öffentlichen Gesundheitswesen. Im Handel konzentrieren sich umweltrelevante Klauseln auf die Tarifverträge der Sparten Lagerleistungen, Groß- und Einzelhandel. In der Landwirtschaft enthielten 42 Tarifvereinbarungen Bestimmungen zum Umweltschutz.
Häufige Inhalte dieser Tarifvertragsklauseln waren die Einhaltung der Umweltgesetze, Arbeitsschutzkommissionen und paritätische Ausschüsse, Förderung der nachhaltigen Entwicklung, Umweltschutz, Veranstaltungen und Kampagnen zur Sensibilisierung, Senken des Papierverbrauchs, Recycling, Ernährung, Ergebnisbeteiligung, Kampf gegen Drogen- und Alkoholmissbrauch und Anwendung von Agrargiften.
Bei Tarifverhandlungen in Brasilien steckt die Verbindung von Umwelt und Arbeitswelt also noch in den Kinderschuhen. Normalerweise beschränkt man sich auf betriebsinterne Angelegenheiten wie Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit, während die Beziehungen zwischen Produktion und Umwelt nur langsam ins Bewusstsein rücken.
Die brasilianischen Gewerkschaften und ihre Verbände sind zudem an einigen wenigen nationalen und internationalen Abkommen über nachhaltige Entwicklung, ökologische Verantwortung und Dekarbonisierung der Wirtschaft beteiligt. So arbeiten die Metallgewerkschaften an einem Regierungsprogramm zur Förderung der Elektromobilität mit. Auf internationaler Ebene haben brasilianische Gewerkschaften Rahmenabkommen unterzeichnet, die vom globalen Gewerkschaftsverband IndustriAll in Branchen wie Energie, Erdöl und Erdgas und in der Automobilindustrie abgeschlossen wurden.
Bis zur Verbindung von Arbeitswelt und Umwelt liegt noch ein langer Weg vor der brasilianischen Gewerkschaftsbewegung. In einem ersten Schritt sind für Arbeitsplätze im Bereich Umweltschutz gute Arbeitsbedingungen herzustellen und breite Bündnisse mit sozialen Bewegungen (Umwelt, Studierende, Frauen, bäuerliche Landwirtschaft, indigene Völker etc.) zu schmieden. Damit der Übergang zu nachhaltiger und menschenwürdiger Arbeit, zu einer CO2-freien Wirtschaft, zur Überwindung der sozialen Ungleichheit und zum Erhalt der Umwelt gelingen kann, gilt es, gemeinsam Räume für den sozialen Dialog zu schaffen.
Der Autor, Nelson de Chueri Karam, ist Volkswirt am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der brasilianischen Gewerkschaften (DIEESE), das seit mehr als 60 Jahren in den Bereichen Forschung, Beratung und Bildung tätig ist. Unter seiner Leitung wurde am Institut für Arbeitswissenschaft in Brasilien der erste interdisziplinäre Bachelor-Studiengang für Arbeitswissenschaft eingerichtet. Aktuell entwickelt und koordiniert er Projekte zu den Folgen der Technologie-, Gesundheits- und Umweltpolitik für die Arbeitswelt.
Der Artikel erschien in der Broschüre, Transformation weltweit – für Gute Arbeit im digitalen und ökologischen Wandel, im Dezember 2020.