Gewalt am Arbeitsplatz - Die Macht des Kollektivs nutzen

Die Macht des Kollektivs nutzen

Fatima Shaikh, Näherin in Heimarbeit und Präsidentin der Frauengewerkschaft LEARN Mahila Kaamgar Sanghatana - LMKS, un ihre Tochter Amina Shaikh

Indien hat seit 2013 ein Gesetz, das Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz verbietet. Frauen im informellen Sektor hilft das bislang oft nicht. Deshalb müssen die Arbeiterinnen-Kollektive der Graswurzelbewegung gestärkt werden, fordert Indira Gartenberg.

Kann eine kleine Gruppe mittelloser Frauen in einem Land mit einer Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen und einer alarmierend hohen Zahl von sexuellen Übergriffen den entscheidenden Unterschied ausmachen? Sie kann. Das zeigt das Beispiel Indien. Veränderung geschieht jedoch nicht über Nacht. Oft baut sie auf schrittweisen Mini-Erfolgen auf.

Die ökonomischen Beziehungen in Indien sind sehr traditionell und patriarchal: In Ermangelung sozialstaatlicher Strukturen halten die Menschen beharrlich an Unterschieden durch Religions- oder Kastenzugehörigkeit oder Sprachgruppen fest. Denn gerade für die Armen sind sie die einzige Absicherung, versprechen ihnen diese Zugehörigkeiten doch scheinbar soziale Akzeptanz, Status, Beschäftigung, Eine einzelne Frau riskiert ihre komplette Existenz und das Wohl ihrer Familie, wenn sie gegen ihre Ausbeutung protestiert.

Dieser Hintergrund ist wichtig, um zu verstehen, welchen Weg die Frauenrechtsbewegung in Indien in den letzten 27 Jahren zurückgelegt hat. Seit sechs Jahren gibt es ein Gesetz, das Gewalt und sexuelle Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz unmissverständlich verbietet. Das ILO-Übereinkommen 190 ist ein weiterer wichtiger Schritt.

Am Anfang stand die Entschlossenheit und der Mut von Bhanwari Devi. Sie arbeitete 1992 als Regierungsangestellte in Rajasthan mit einem Entwicklungsprojekt für Frauen zusammen. Als sie versuchte, eine Kinderhochzeit in einer Familie zu verhindern, die einer höheren Kaste angehörte, wurde sie selbst von einer Gruppe von Männern aus dieser Familie vergewaltigt. Die Richter am Sessions Court und am High Court befanden die Vergewaltiger für »unschuldig«. Erst nach fünf Jahren zwangen Frauenrechtsgruppen den Supreme Court mit einer Public Interest Litigation, anzuerkennen, dass Frauen rechtliche Möglichkeiten fehlten, sich gegen sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz zu wehren. Bei diesem Klageverfahren kann eine gemeinwohlorientierte Person oder Organisation fremde Rechte in fremdem Namen geltend machen. Die Richter stellten Richtlinien – die sogenannten Vishakha Guidelines – auf, die die Spanne bis zu einem ordentlichen Gesetz überbrücken sollten.

Zwar wurden Bhanwaris Vergewaltiger nie bestraft, sie selbst und ihre Familie werden ausgegrenzt. Aber ihr Fall sorgte dafür, dass Frauen in Indien plötzlich einen Begriff von unangemessenem Verhalten hatten, dass höchstrichterlich klar gemacht wurde, dass sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz verboten sind.

Den Vishakha-Richtlinien folgte weitere 16 Jahre später mit dem »Sexual Harassment of Women at Workplace Act« ein Gesetz, das eindeutig festlegt, was unter »sexueller Belästigung« zu verstehen ist: physische Annäherungen, die Forderung nach sexuellen Gefälligkeiten, sexuelle Anspielungen, das Zeigen von pornografischen Bildern sowie jegliches andere unverlangte physische, verbale oder nichtverbale Benehmen mit sexueller Motivation.

Frauengruppen begrüßten das Gesetz. In großen staatlichen und privaten Unternehmen entstanden Beschwerdestellen, Sensibilisierungstrainings wurden angeboten, die #me too-Kampagne tat ein übriges. Aber der Fortschritt beschränkte sich auf die gebildete, internetaffine Mittelschicht, die große Mehrheit der Nichtausgebildeten, Armen, Nicht-Internet-User blieb in ihren strikten Kastenregeln gefangen.

Am weitesten zurück blieben die Frauen im informellen Sektor. Sie können weder mit den Mitteln der Regierung noch der Internetgesellschaft erreicht werden. Hier müssen die Graswurzelbewegungen ins Boot geholt werden. Sie werden von Frauen geleitet, die den gleichen sozioökonomischen Milieus angehören. Offiziell sind sie teils als Gewerkschaften registriert, teils als Nichtregierungsorganisationen. Neben ihrer ursprünglichen Rolle, Frauen in Fragen von Lohn und Arbeitsbedingungen zu unterstützen, kümmern sie sich auch um Rechtshilfe bei häuslicher Gewalt und familiären Problemen, Unterstützung in der Pflege, Zugang zu staatlichen Mitteln, Stipendien für die Kinder. Indem sie die Arbeit in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellen, betonen diese Kollektive die Identität der Frauen als Arbeiterinnen, als Verdienerinnen, die einen gleichwertigen Beitrag zum Haushalt und für die Nation liefern.

Diese Arbeiterinnen-Kollektive sind die Hoffnung der indischen Frauen. Bei der Umsetzung des neuen ILO Übereinkommens muss darauf gedrängt werden, sie zu stärken und zu aktivieren. Wenn sie die rechtlichen und institutionellen Möglichkeiten nutzen, sich gegenseitig unterstützen und die patriarchalen Strukturen in Frage stellen, wird sich die Situation von Frauen und Mädchen in diesem Land verändern. Wie die Anthropologin Magaret Mead sagte: »Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann. Tatsächlich ist das die einzige Art, wie sie jemals verändert wurde.«

Autorin: Indira Gartenberg ist die regionale Beraterin des DGB Bildungswerks für Asien und Organisationssekretärin beim Labour Education and Research Network in Indien. Übersetzung und Kürzung: Beate Willms

Bild: Fatima Shaikh, Näherin in Heimarbeit und Präsidentin der Frauengewerkschaft LEARN Mahila Kaamgar Sanghatana - LMKS, und ihre Tochter Amina Shaikh

Aus NORD I SÜD news III/2019