Coronafolgen: Gesundheitsversorgung Indien »Wir müssen das medizinische Personal besser schützen«
In Indien trifft die Krise Arbeitsmigrant_innen besonders hart, aber nicht nur sie: Rund 12 Prozent der Infizierten sind Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen. Eine Lehre, die Gewerkschafter Kannan Raman aus der Krise zieht: »Der Privatisierungswahn im Gesundheitswesen muss ein Ende haben. Gesundheit gehört allen Menschen.«
Es ist der 24. März, als Narendra Modi eine folgenschwere Entscheidung trifft. Seit knapp zwei Monaten breitet sich das Corona-Virus auf dem Subkontinent immer weiter aus, der indische Premierminister muss reagieren. Von China bis Europa haben etliche Staatschefs ihren Ländern einen Lockdown verordnet. Nur wenige Staaten wie beispielsweise Schweden gehen einen anderen Weg. Modi folgt der Mehrheit – und verhängt an jenem Dienstag einen landesweiten Lockdown. Von einem Tag auf den anderen sollen 1,3 Milliarden Menschen zu Hause bleiben.
Doch während in vielen Ländern wie China oder Deutschland seither die Zahl der Corona-Neuinfektionen kontinuierlich zurückgeht, erlebt Indien eine dramatische Verschärfung der Situation. Anfang Juni meldet die Regierung in Delhi die bislang höchste Zahl an Corona-Neuinfektionen innerhalb eines Tages: fast 10.000 neue Fälle. Die Gesamtzahl der Infektionen erhöhte sich damit auf mehr als 256.000. Damit weist Indien die höchste Ansteckungszahl in Asien auf.
Kritiker_innen wie der Oppositionspolitiker Rahul Gandhi sehen daher den Lockdown als gescheitert an, während die Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation die Maßnahmen als »aggressiv, aber notwendig« im Kampf gegen das Virus loben. Die Wahrheit liegt wohl dazwischen, da die Fallzahlen auf dem Subkontinent stark variieren – von Maharashtra mit 44.000 Fällen bis Sikkim oder Chandigarh mit nur wenigen Infizierten.
Zugleich hat der Lockdown jedoch gnadenlos Schwachstellen der indischen Gesellschaft offengelegt. »Durch Corona wurden zwei Bevölkerungsgruppen sehr hart getroffen: Wanderarbeiter_innen und Gesundheitshelfer_innen«, sagt Kannan Raman vom Public Services International in Chennai – einer Partnerorganisation des DGB Bildungswerk Bund.
Die unzähligen Arbeitsmigrant_innen bilden das Rückgrat der indischen Wirtschaft. Sie ziehen in die Megacities des Subkontinents, um sich auf Baustellen als Tagelöhner_innen oder als Putzkräfte in den Villen der Reichen zu verdingen. Rund 80 Prozent der indischen Wirtschaftsleistung wird derart informell erzielt. Doch der Lockdown hat das Leben dieser Menschen über Nacht auf den Kopf gestellt: Keine Arbeit, kein Geld, kein Essen. Und wer krank wird, erhält auch keine ärztliche Versorgung. Da sie so in Delhi, Mumbai oder Chennai nicht mehr überleben können, ziehen sie zurück in ihre Dörfer auf dem Land. Es ist genau das, was der Lockdown verhindert wollte – die Ausbreitung des Virus.
Zudem kommt es auf den Heimreisen zu dramatischen Ereignissen. Raman erzählt von Menschen, die hunderte Kilometer zu Fuß nach Hause gehen und nachts an den Bahngleisen vom Zug erfasst werden. Andere sitzen fest an den Grenzen zwischen den Bundesstaaten, da diese keinen mehr reinlassen. »All das zeigt, es gab schlicht keinen Plan für diese Menschen«, klagt Raman.
Die zweite stark leidende Gruppe sind Indiens Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen. Schon vor der Pandemie mangelte es vielerorts an Schutzkleidung und Medikamenten. Lediglich zwei Prozent des Bruttoeinlandproduktes fließen in den staatlichen Gesundheitssektor, in Deutschland sind es knapp 12 Prozent. Zu wenig Geld, zu wenige Medikamente, zu wenig Ärzte und Schwester, lautet das vernichtende Urteil einer Insiderin.
Viele Bereiche des Gesundheitssystems seien in den vergangenen Jahren privatisiert worden, berichtet Raman. »Seither geht es dort nur noch um Profit«, erklärt der Gewerkschafter. Und den erziele man vor allem durch Export. Die Folge: »Als die Corona-Pandemie ausbrach, hatten wir kaum Testkapazitäten geschweige denn Schutzmasken – und konnten deshalb nicht mal unsere medizinischen Helfer schützen.«
Raman bleibt dennoch optimistisch, er hat konkrete Vorstellungen, was man aus der Corona-Krise lernen sollte. »Der Privatisierungswahn im Gesundheitswesen muss ein Ende haben. Gesundheit gehört allen Menschen, von den Super-Reichen in Mumbai bis hin zu den Wanderarbeitern in Uttar Pradesh.« Zudem müssten die Verantwortlichen deutlich mehr Geld in die Infrastruktur investieren, angefangen bei der Zahl an Intensivbetten in Krankenhäusern, über die Ausbildung und Bezahlung von Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen bis hin zu Schutzmasken für die Helfenden in den Dörfern auf dem Land. Bei rund 12 Prozent der Infizierten in Indien handelt es sich um Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen. »Das ist ein untragbarer Zustand«, mahnt Raman. »Wir müssen das medizinische Personal und Arbeitende besser schützen.«
Hilfe dafür kommt auch aus dem Ausland, beispielsweise vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Zwar gebe es keine speziellen Notfallhilfen, meint Tanja Schindewolf, die Projektleiterin Asien beim DGB-Bildungswerk – und erklärt: »Unsere Projekte sind auf eine langfristige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter_innen ausgelegt. Aber in diesem Rahmen reagieren wir natürlich auch auf unvorhergesehene Ereignisse und versuchen aktuell mit kurzfristigen Maßnahmen die Eindämmung der Verbreitung des Virus zu unterstützen.«
Autor: Michael Radunski lebt als freier Journalist in Berlin, er hat viele Jahre in Indien gearbeitet.
Juni 2020