Aus den Projekten: »Wir brauchen das Verbandsklagerecht«
Grenzübergreifend entsandte Beschäftigte sind in der Corona-Krise kaum abgesichert. Das verschärft ihre prekäre Situation. Wie das Projekt Fair Mobility helfen kann, erklärt Michaela Dälken im Interview.
Nord | Süd news: Michaela Dälken, was ist Fair Mobility?
Michaela Dälken: Uns geht es um faire Bedingungen für mobile Arbeit. Auch Menschen, die nur für ein paar Wochen oder Monate nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten, sollen ihren gerechten Lohn bekommen und unter vernünftigen Bedingungen arbeiten können. Das ist bei mobiler Arbeit jedoch oft nicht der Fall.
Warum ist das so?
Deutsche Arbeitgeber nutzen die Zwangslage dieser Menschen aus – und das mit System. Sie betrügen sie um ihren Lohn, lassen sie zu lange arbeiten, dokumentieren ihre Arbeitszeiten nicht etc. Zwar unterstehen die entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Teil dem deutschen Arbeitsrecht, aber das müssen sie durchsetzen. Im Zweifel vor Gericht – und das meiden die meisten, weil sie wieder eingestellt werden wollen. Die Firmen wissen das, so haben sich regelrecht mafiöse Strukturen ausgebildet.
Welche Branchen sind vor allem betroffen?
Meist sind dies Beschäftigte aus Ost- und Mitteleuropa – LKW-Fahrer_innen, Bauarbeiter_innen, Pflegekräfte in Privathaushalten, aber auch Hilfskräfte in der Landwirtschaft.
Mit dem DGB-Projekt »Fair Working Conditions« soll Abhilfe geschaffen werden. Wie?
Wir bauen ein transnationales Beratungsnetzwerk für entsandte Arbeitnehmer_innen in Europa auf. Wir haben mittlerweile gewerkschaftliche und gewerkschaftsnahe Beratungsstellen in Kroatien, Polen, Ungarn, Rumänien und Slowenien. Diese vernetzen sich mit den Beratungsstellen in Deutschland, wie zum Beispiel der vom DGB Faire Mobilität.
Wie funktioniert das Netzwerk?
Jede Beratungsstelle konzentriert sich auf eine bestimmte Branche. Die Gewerkschaft OPZZ in Polen richtet sich speziell an Pflegekräfte, die in privaten Haushalten arbeiten. Die VASAS in Ungarn ist eine Metallarbeitergewerkschaft. Die rumänische BNS und die kroatische SSSH legen jeweils ihren Schwerpunkt auf die Bauwirtschaft, während sich die Beratungsstelle der ZSSS in Slowenien auf entsandte Lkw-Fahrer_innen spezialisiert hat.
Und wie laufen die Beratungen ab?
Wir informieren die Arbeitswilligen über ihre Rechte auf dem deutschen Arbeitsmarkt, noch bevor sie ihr Heimatland verlassen. Nach der Rückkehr helfen die Beratungsstellen bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber und in sozialen Fragen, zum Beispiel bei der Krankenversicherung oder Arbeitsunfällen. Wir hatten jetzt einen Fall, in dem ein LKW-Fahrer um mehrere Tausend Euro Lohn betrogen wurde und viel zu lange Fahrtzeiten hatte. Außerdem vernetzen wir uns europaweit und setzen uns gemeinsam auf politischer Ebene für bessere Arbeitsbedingungen entsandter Beschäftigter ein.
Was bedeutet die Corona-Krise für die Wanderarbeiter_innen?
Corona hat ganz viele neue Anforderungen an uns gestellt. Zunächst standen wir vor der Frage, ob entsandte Beschäftigte in Kurzarbeit gehen können. Das können sie nicht. Damit stehen sie ohne jede Absicherung da und viele wurden entlassen. Dann kam die Frage auf, wer die Quarantäne bezahlt, falls eine nötig werden sollte. Die Frage ist noch strittig und führt zu ständigen Problemen. Als im Frühjahr die innereuropäischen Grenzen geschlossen wurden, konnten Tausende nicht zur Arbeit kommen, standen plötzlich ohne Einkommen und Unterstützungsleistung da. Oder sie saßen hier und konnten nicht in ihr Herkunftsland zurück. Das alles hat für einen enormen Druck in dem Sektor gesorgt. Das sind prekär Beschäftigte, sie sind auf das Geld angewiesen, haben keine finanziellen Reserven. Also kommen sie um jeden Preis zur Arbeit. Die Folge sind noch mehr Ausbeutung oder sogar Gewalt durch die Arbeitgeber. Die Situation ist derzeit äußerst angespannt.
Was heißt das für Fair Mobility?
Wir beraten coronabedingt sehr viel mehr. Um den Beschäftigten ihren Lohn zu verschaffen, versuchen wir meist, zunächst an die Generalunternehmer heranzutreten. Klagen wollen ja nur die wenigsten Betroffenen.
Wo kein Kläger, da kein Recht. Wie kommt man aus diesem Dilemma raus?
Wir brauchen als Gewerkschaften unbedingt das Verbandsklagerecht, damit wir anstelle der entsandten Arbeitnehmer_innen klagen und endlich die mafiösen Strukturen auflösen können.
Interviewte: Michaela Dälken ist Leiterin des Kompetenzzentrum Migration beim DGB Bildungswerk
Interviewerin: Uta von Schrenk arbeitet als Journalistin vor allem zu gewerkschaftlichen Themen
Dezember 2020