Arbeit und Kapitalismus in der Transformation
Arbeit, Gesellschaft und Politik befinden sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Wenn Marktzwänge und Profitorientierung dabei als Leitplanken gelten, werden Umwelt und die Mehrheit der Menschen dabei verlieren. Für erfolgversprechender hält Hans-Jürgen Urban eine umfassende Demokratisierung der Prozesse, eine zeitgemäße Arbeitsökologie mit einem neuen sozialen Entwicklungsmodell.
Klimaziele, Kohleausstieg, Mobilitätswende, aber auch Arbeiten im Homeoffice sind Reaktionen auf Entwicklungen, die die Welt rasant verändern: auf die globale Erhitzung, auf die SARS-CoV-2-Pandemie. Einiges davon unterstützt, möglich gemacht oder auch getrieben durch die fortschreitende Digitalisierung. Der Industriestandort muss sich anpassen, nicht langsam und in kleinen Schritten, sondern in großen Umbrüchen. Das schürt Ängste und Sorgen. Deshalb ist es wichtig, zu verstehen, was passiert – und die Veränderungen mitzugestalten.
Solche Umbrüche sind nicht neu. In der wissenschaftlichen, aber auch in der öffentlichen Diskussion hat sich dafür der Begriff der „Transformation“ eingebürgert. Er geht vor allem auf den Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi zurück. Er prägte die Rede von der „Großen Transformation“.
Im Zentrum seiner Theorie steht die Entstehung der liberalen Marktgesellschaften durch die Verselbstständigung des Marktes gegenüber der Gesellschaft im 19. Jahrhundert sowie ihr Umkippen in faschistische Regime. Polanyi lokalisiert die Ursache für dieses Umkippen Westeuropas in dem sozialen und technologischen Umbruch, bei dem auch Arbeit, Boden und Geld zu Tauschobjekten wurden, die man auf Märkten handelte.
Doch die Einbeziehung von Arbeit, Boden und Geld in die „Teufelsmühle des Marktes“, wie Polanyi es nannte, blieb nicht ohne Folgen. Denn ihre Kommodifizierung beruht dem Soziologen zufolge auf einer Fiktion. Sie lassen sich nicht wie beliebige Waren behandeln, ohne in ihrer Substanz und sozialen Funktion Schaden zu nehmen. Wird die Arbeitskraft über ihre Regenerationskraft hinaus beansprucht, schädigt dies die menschliche Gesundheit und am Ende die Qualität der Arbeitskraft selbst. Ähnlich destruktive Folgen in Form von Umweltzerstörung oder Inflation begleiten die Vermarktlichung von Boden und Geld. Um die fiktiven Waren vor den zersetzenden Marktkräften zu schützen, griffen die Gesellschaften erneut in den Marktmechanismus ein, indem sie regulative Institutionen aufbauten und Sozialgesetze erließen. Diese sollten den Konkurrenz- und Profitmechanismen Grenzen setzen und vor allem die Arbeit vor einer Übernutzung schützen.
Polanyis Analyse zeigt: Die historische Transformation war im Kern ein kapitalistischer Prozess, und die heutige ist es auch.
Polanyis Analyse zeigt: Die historische Transformation war im Kern ein kapitalistischer Prozess, und die heutige ist es auch. Beide vollziehen sich im Rahmen der kapitalistischen Eigentumsordnung und beide werden durch die Spielregeln von Märkten und Kapitalverwertung geprägt. Konkurrenz und Profitstreben gewinnen so die Oberhand. Soll dies verhindert werden, sind Regularien und Eigentumsverhältnisse unverzichtbar, die die Dynamiken der Transformation in gesellschaftliche Institutionen und Ziele „einbetten“.
Die Treiber der kapitalistischen Transformation
Historisch führte die Einbettung der Märkte nach Faschismus und Weltkrieg zu den westlichen Wohlfahrtsstaaten, die dem Nachkriegskapitalismus seine Stabilität und den Lohnabhängigen einen ansehnlichen Lebensstandard ermöglichten. Doch die neoliberale Offensive der letzten drei Jahrzehnte hat dafür gesorgt, dass die kapitalistischen Märkte sich erneut immer stärker der staatlichen Regulierung entziehen.
Die Globalisierung und Digitalisierung sind zugleich Resultate und Treiber dieser Entwicklung. Die Nachkriegsordnung hatte auf internationale Institutionen und Regulierungen aufgebaut, die den Schutz des Status quo und der nationalstaatlichen Souveränität zum Ziel hatten. Mit zunehmender Denationalisierung und Liberalisierung lösten sich die Güter- und Geldmärkte aus diesen Regulierungen. Das hat die gigantische Expansion der Finanzmärkte erst ermöglicht. Auch das explosionsartige Wachstum der globalen Internet-Konzerne – Google, Amazon, Microsoft, Apple, Facebook – wäre in regulierten Märkten kaum denkbar.
Wenn die gegenwärtige Entwicklung fortgeschrieben wird, werden Globalisierung, Digitalisierung und wohl auch die anstehende Dekarbonisierung weiterhin einen starken marktkonformen Transformationsdruck entfalten. Hier gilt: Im Selbstlauf, wenn die Transformation nur durch Marktzwänge und Profitorientierung gesteuert wird, dürfte sie für Arbeit, Gesellschaft und Natur eher Fluch als Segen sein. So wird die globale und digitale Transformation im Saldo Arbeitsplätze eher gefährden und Arbeit intensiver und von Marktschwankungen abhängiger machen. Und die digitalen Techniken werden die Gesellschaft durchdringen, sie kontrollierbarer machen und Gefahren für die Demokratie heraufbeschwören.

Gewerkschafter_innen protestieren in São Paulo gegen Einschränkungen bei der Renten- und Sozialversicherung.
Beschleunigte Digitalisierung – gut für Arbeit und Umwelt?
Die neoliberale Erzählung, nach der die Globalisierung Wohlstand für alle bedeute, entpuppt sich also zunehmend als ideologisches Konstrukt, als „große Globalisierungslüge“, wie etwa der Harvard-Ökonom Dani Rodrik schreibt. Zu stark wächst die soziale Kluft zwischen einer kleinen Elite von Globalisierungsgewinnern und dem Rest der Weltbevölkerung.
Trotzdem werden in die Digitalisierung nach wie vor große Hoffnungen gesetzt. Von Politik, Medien und mitunter auch von den Gewerkschaften. Digitale Arbeit sei humaner, interessanter und flexibler als die heutige, heißt es. Und der digitale Kapitalismus smarter und grüner als der gegenwärtige. Realistische Hoffnungen?
Festzuhalten bleibt zunächst: Corona hat die Digitalisierung beschleunigt. Eine Umfrage unter Personalverantwortlichen zeigte: Während vor der Corona-Pandemie 39 Prozent der Mitarbeitenden zumindest teilweise von zuhause arbeiten konnten, waren es im August 2020 gut 61 Prozent. Insbesondere im Verarbeitenden Gewerbe stieg der Homeoffice-Anteil deutlich – auf 70 Prozent. Für die Zeit nach Corona plant nach einer Umfrage des Ifo-Instituts ein großer Teil der Firmen, das Homeoffice-Angebot zu erhöhen. Die Ausbreitung ortsflexibler Arbeit dürfte also weitergehen.
Zweifelsohne stößt gerade diese Arbeit im Homeoffice bei vielen Beschäftigten auf große Zustimmung. Lange Hin- und Rückfahrten zur Arbeit können eingespart werden. Und digitale Arbeit kann helfen, Arbeit und Privatleben besser zu koordinieren. Aber – behält Polanyi Recht – dürfte sich eine weitgehend unregulierte und den Marktgesetzen folgende Digitalisierung mit Blick auf Arbeit und Umwelt eher als Teil des Problems denn als Lösung erweisen. Gewerkschaftliche Erfahrungen zeigen: Für die Unternehmen ist die digitale Durchdringung der Prozesse vor allem ein Instrument zur Steigerung von Intensität, Kontrolle und Produktivität der Arbeit: Homeoffice soll den Bürobedarf verringern und neue Möglichkeiten bieten, Immobilien zu nutzen. Zugleich kann es als Probelauf für neue Outsourcing-Initiativen wichtige Erfahrungen liefern.
Der digitale Kapitalismus ist von sich aus keineswegs grün.
Auch die Hoffnung, dass die Umwelt mehr geschont wird, dürfte enttäuscht werden. Der digitale Kapitalismus ist von sich aus keineswegs grün. Er nimmt die Natur in erheblichem Ausmaß in Anspruch, eröffnet neue Felder eines umweltbelastenden Konsums. Er erzwingt die Ausbeutung seltener Ressourcen und ermöglicht die Ausbeutung traditioneller Ressourcen in neuen Dimensionen, erzeugt riesige Mengen von Elektroschrott, der nur mit enormem Energieaufwand und Werteverlust recycelt werden kann. Nicht zuletzt hat er einen gigantischen Energiebedarf.
Herausforderungen für die Gewerkschaften
Was kann, was sollte das alles für die Gewerkschaften heißen? Zunächst, dass gewerkschaftliche Interessenvertretung zukünftig aus der Perspektive einer nachhaltigen „Arbeitsökologie“ formuliert werden muss. Dabei sollten Prüfkriterien definiert werden, um akzeptable und nicht akzeptable Politikvorschläge unterscheiden zu können. Ökologische Nachhaltigkeit, Beschäftigungssicherheit und (Verteilungs-)Gerechtigkeit müssen ein Zieldreieck darstellen, das die Eckpunkte einer sozial-ökologischen Transformationsagenda markiert. Ein solcher erweiterter Ökologiebegriff muss auch die Gebrauchswertseite der Produkte und die Nachhaltigkeitsanforderungen der Produktionsverfahren einbeziehen. Eine zeitgemäße Arbeitsökologie hat also Arbeit, Natur und Gesellschaft zugleich im Blick. Sie schützt die Arbeitskraft im Arbeitsprozess und sie schützt soziale Sicherungen; sie reduziert Ressourcen- und Energieverbrauch sowie Emissionen auf ein naturverträgliches Maß; und sie begrenzt gesellschaftliche Spaltungen und fördert gesellschaftliche Solidarität.
Ein neues Modell mit flachem Wachstum
Das alles erfordert einen neuen Wachstumstyp in einem neuen sozialen Entwicklungsmodell. Trug das ökonomische Wachstum kapitalistischer Prägung traditionell zur Behebung konjunktureller Dellen und zur Entschärfung sozialer Verteilungskonflikte bei, so forciert es heute die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen und den Raubbau an der Natur. In diesem neuen Modell wird es auch weiterhin Wachstum geben müssen. Denn die Gegenwartsgesellschaften sind nicht nur Überfluss-, sondern auch Defizitgesellschaften. Umweltschädlicher Luxusproduktion stehen Investitionsrückstände bei sozialer Sicherheit, im Gesundheits- und Sorgebereich, im Bildungs- und Kultursektor und bei der Mobilität von Menschen und Gütern gegenüber. Sie zu beheben erfordert weiterhin die Produktion von Gütern wie Zügen, Bussen und Autos; und von sozialen Sorge-Diensten. Und es erfordert wirtschaftliche Wertschöpfung, die in öffentliche Investitionen in öffentliche Güter umverteilt werden muss.
Aber: Ein solches Modell wird sich von der traditionellen Form wirtschaftlichen Wachstums erheblich unterscheiden müssen. Es fällt flacher aus, da es nicht Wachstum auf Teufel komm raus fördert, sondern nur dort, wo gesellschaftlicher Nutzen zu erwarten ist. Es ist nachhaltiger, da es die Grenzen der Natur als Grenzen des Wachstums akzeptiert; und es müsste sich gerechter vollziehen, indem es die Verlierer_innen des Strukturwandels nicht in Arbeitslosigkeit oder Armut abdrängt, sondern ihnen mit gesellschaftlichen Ressourcen neue Perspektiven eröffnet.
Solche Ansprüche überfordern den Markt. Er stellt eine Spielanordnung dar, in der private Akteure nach maximalem Profit oder Nutzen jagen und anfallende Kosten auf die Gesellschaft oder die Natur abgewälzt werden können. Und in der wirtschaftliche Marktmacht in politische Vetomacht umschlägt. Sollen gesellschaftliche Gebrauchswerte, ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit zu Zielmarken werden, sind andere Spielregeln unverzichtbar. Das erfordert politische Eingriffe in die Märkte, bis in die Unternehmensentscheidungen hinein. Mit anderen Worten: Ein solcher Pfadwechsel ist ohne eine umfassende Demokratisierung der gesellschaftlichen, vor allem der ökonomischen Verhältnisse nicht zu haben. Die ökologische Transformation und die Demokratisierung von Arbeit und Wirtschaft müssen Hand in Hand gehen, oder beide werden scheitern. Die Partizipation der Belegschaften muss bis in die Entscheidungen über das Was, Wie und Wofür der Produktion erweitert werden. Und eine demokratische Wirtschaftspolitik muss verbindlich und sanktionsbewährte Grenzwerte für Ressourcen- und Energieverbrauch sowie für Schadstoffbelastungen der Öko-Systeme definieren. Dabei gilt: Die Nachhaltigkeitserfordernisse der Natur definieren die Grenzen des Wachstums. Und die Politik steuert es gemäß den sozialen Interessen der Gesellschaft.
Globale Solidarität – ein altes Ziel neu entdecken
Der Soziologe Klaus Dörre hat dafür den Begriff der „Nachhaltigkeitsrevolution“ geprägt. Diese muss in den Ländern des kapitalistischen Nordens beginnen, darf dort aber nicht verharren. Globalisierung, Digitalisierung und Ökologisierung sind ihrem Wesen nach global. Schon immer tendierte der Kapitalismus des globalen Nordens dazu, wirtschaftliche und soziale Kosten seiner Produktions- und Lebensweise zu externalisieren. Sie werden ohne Rücksichtnahme auf ökologische und soziale Folgen auf andere Weltregionen und die dort lebenden Menschen abgewälzt.
Doch was Unternehmen aus Renditegründen und Gesellschaften aus Ignoranz auszulagern glauben, kehrt als Klimakrise sowie durch Armuts- und Umwelt-Migration in unsere Gesellschaften zurück.
Doch was Unternehmen aus Renditegründen und Gesellschaften aus Ignoranz auszulagern glauben, kehrt als Klimakrise sowie durch Armuts- und Umwelt-Migration in unsere Gesellschaften zurück. Deutlich wird: Globalisierung, Digitalisierung und Ökologisierung auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad zu drängen, kann nur als globales Projekt gelingen. Hier wie dort braucht es durchsetzungsstarke soziale Bewegungen, die die Interessen von Arbeit und Natur gegenüber den Macht- und Gewinninteressen herrschender Eliten zur Geltung bringen. Höchste Zeit also, die globale Dimension der Probleme als historische Chance zu begreifen, den Traditionswert des gewerkschaftlichen Internationalismus neu zu entdecken.
Der Autor Hans-Jürgen Urban ist seit 2007 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und dort zuständig für Fragen der Sozialpolitik, Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik. Zugleich ist der promovierte Sozialwissenschaftler als Privatdozent und Mitglied des DFG-Kollegs „Postwachstumsgesellschaften“ an der Universität Jena tätig. Hans-Jürgen Urban publiziert u.a. zu den Themen Kapitalismuskritik, digitale Transformation, Ökologie der Arbeit und Gewerkschaften.
Der Artikel erschien in der Broschüre, Transformation weltweit – für Gute Arbeit im digitalen und ökologischen Wandel, im Dezember 2020.