Der Kommentar: 50 Jahre OECD-Leitsätze Bewusstsein schaffen, Kapazitäten aufbauen, Lobbyarbeit verstärken
4.12.2025 I Die Regulierung von multinationalen Unternehmen steht unter Bedrängnis, Arbeiter*innenrechte drohen zu erodieren. Der 50. Jahrestag der OECD-Leitsätze für verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln muss ein Anlass sein, die Gewerkschaften in Stellung zu bringen, damit sie Errungenschaften verteidigen und bessere Standards erkämpfen können, sagt Andrea Fromm, Politikberaterin im TUAC.
Die OECD-Leitsätze für verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln multinationaler Unternehmen feiern 2026 ihr 50-jähriges Jubiläum. Sie waren das erste Instrument zur grenzüberschreitenden Regulierung der Multis im Bereich Arbeitsrechte und später unternehmerischer Sorgfaltspflichten und haben einen wesentlichen Beitrag geleistet. Dennoch werden Arbeiter*innen und die Umwelt weiterhin auf der Suche nach den billigsten Arbeits- und Materialquellen ausgebeutet. Starke internationale regulatorische Instrumente für Gewerkschaften sind deshalb weiterhin absolut notwendig, um die Multis dazu zu bringen, einen positiven Beitrag zum sozialen und ökologischen Fortschritt zu leisten und schädliche Auswirkungen auf Gemeinschaften zu verhindern.
Es droht ein weiterer Wettlauf nach unten
Aktuell sehen sich Unternehmen weltweit, die mit den USA Handel treiben, mit hohen Zöllen konfrontiert. Importe oder Exporte in die USA sind stark verteuert. Die zusätzlichen Kosten müssen oft von den Lieferanten durch Einsparungen aufgefangen werden. Dieser Kostendruck setzt ohnehin schon gefährdete Arbeiter*innen einem erhöhten Risiko von Menschenrechts- und Arbeitsrechtsverletzungen aus. Löhne sinken, Arbeitszeiten und Arbeitsintensität steigen, Tarifverhandlungen werden untergraben und Gewerkschaftsfeindlichkeit breitet sich weiter aus. In Verbindung mit der jahrelangen Inflation nach COVID-19 hatte dieser Wettlauf nach unten bereits verheerende Auswirkungen auf Arbeiter*innen und Gemeinden und hat die Ungleichheit weltweit verstärkt.
Wenn internationale Vorschriften und Standards geschwächt werden, droht ein Wettlauf nach unten
In Europa hat die Europäische Kommission im Februar 2025 – nur sechs Monate nach Verabschiedung der Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen – vorgeschlagen, Nachhaltigkeitsberichterstattung und Sorgfaltspflichten zu vereinfachen. Und die Richtlinie soll noch weiter geschwächt werden (siehe S.2/3 in dieser Ausgabe). Seit September liegt ein Regierungsentwurf zur Änderung des deutschen Lieferkettengesetzes vor. Damit sollen die Berichtspflicht für multinationale Unternehmen sowie die Sanktionsmöglichkeit für die meisten Menschenrechtsverletzungen durch multinationale Unternehmen abgeschafft werden.
Wenn internationale Vorschriften und Standards geschwächt werden, droht ein Wettlauf nach unten, zu Spaltung, Ungleichheit und weiteren Verstößen gegen Arbeitsrechte. Zugleich schränkt das die Möglichkeiten von nationalen Regierungen ein, Menschen- und Arbeitsrechte zu schützen und bei Verstößen Abhilfe zu schaffen.
Internationale Standards sorgen für Sicherheit, Stabilität und Planbarkeit
Die Argumente für internationale Regulierung sind dagegen überzeugend: Standards schaffen gemeinsame Erwartungen und Bedingungen und sorgen so für mehr Sicherheit, Stabilität und Planbarkeit. Sie sorgen für einen fairen Wettbewerb, der auf der Achtung der Menschen- und Arbeitsrechte basiert und zu einer sozialen Konvergenz nach oben beiträgt. Und sie sichern den Zugang zu öffentlichen Mitteln für Unternehmen, die zu produktiven Tätigkeiten, Investitionen und kohärenten Erwartungen und Politiken beitragen.
Weil es bei den gesetzlichen Verpflichtungen für multinationale Unternehmen bedeutende Rückschritte gibt, werden die OECD-Leitsätze umso wichtiger
Weil es bei den gesetzlichen Verpflichtungen für multinationale Unternehmen bedeutende Rückschritte gibt, werden die OECD-Leitsätze umso wichtiger. Gewerkschaften können sie nutzen, um Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen, indem sie Verstöße gegen Arbeitsrechte identifizieren, verhindern und Risiken mindern. Im Fall von Verstößen können sie Arbeiter*innen helfen, Zugang zu Abhilfe zu bekommen.
Der 50. Jahrestag ist für die internationale Gemeinschaft eine Gelegenheit, ihr Commitment für die Leitlinien zu bekräftigen. Wir im gewerkschaftlichen Beratungsausschuss (TUAC) bei der OECD, unsere Mitgliedsorganisationen und Partner, heben gemeinsam die fördernde Rolle von Arbeiter*innenrechten hervor sowie die Bedeutung internationaler Regulierung wie der OECD-Leitsätze und der Nationalen Kontaktstellen.
Leitlinien und Nationale Kontaktstellen nutzen
Nationale Kontaktstellen (NKS) haben alle Regierungen eingerichtet, deren Land sich an die OECD-Leitlinien hält. Eine der wichtigsten Funktionen einer NKS besteht darin, bei mutmaßlichen Verstößen als Beschwerdemechanismus zu fungieren. Schon in der Vergangenheit haben Gewerkschaften diesen Mechanismus genutzt und auf diesem Weg Unternehmen oder Investoren dazu bewegen können, die Arbeitsbeziehungen zu stärken, die Praktiken ihrer Zulieferer zu überprüfen, ihre Sorgfaltspflichten oder die Arbeitsnormen zu verbessern. Gewerkschaften setzten sich zudem dafür ein, dass Ergebnisse den jeweiligen Regierungsbehörden mitgeteilt werden, damit Unternehmen, die gegen die Leitlinien verstoßen oder nicht zur Mediation bereit sind, von öffentlicher Förderung ausgeschlossen werden.
Anlass für Lobbyarbeit
Die Achtung und der Schutz der Arbeitsrechte sowie die Ahndung von Verstößen und der Zugang zu Abhilfe hängen auch von politischem Willen und Engagement ab. Daher ist das Jubiläum auch eine Gelegenheit, die Lobbyarbeit für die Beteiligung der Gewerkschaften an Politikgestaltung bei den nationalen Regierungen und in Unternehmensangelegenheiten zu verstärken. So setzt sich TUAC beispielsweise für eine kohärente Politik im Bereich der verantwortungsvollen Unternehmensführung auf der Grundlage der Gesetzgebung und der Arbeitsrechte und -standards der Internationalen Arbeitsorganisation ein. TUAC fordert zudem, dass Verstöße von Unternehmen gegen die Leitlinien Konsequenzen haben müssen und dass die Verfahren fair und zugänglich sind sowie zeitnah zu konkreten Ergebnissen führen müssen. Dafür ist der Druck der Gewerkschaften wichtig. Um das Bewusstsein zu schärfen und Kapazitäten auch für eine wirksame Lobbyarbeit aufzubauen, entwickelt TUAC derzeit einen praktischen Gewerkschaftsleitfaden.
Autorin: Andrea Fromm ist Politikberaterin beim Trade Union Advisory Committee, TUAC. Mit dieser gewerkschaftlichen Interessenvertretung bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sorgt sie dafür, die Sicht auf die globalen Märkte um die soziale Perspektive zu erweitern.
Aus NORDSÜD NEWS III Dezember 2025 - Gute Arbeit entlang der Lieferkette