
An vorderster Stelle
Arbeitsmigrant_innen stehen in Europa „an vorderster Front“ bei der Bekämpfung der COVID-19-Krise, schreibt der Europäische Gewerkschaftsverband ETUC. Mehr denn je zeigt sich, wie entscheidend ihr Beitrag für die europäischen Volkswirtschaften und öffentlichen Dienstleistungen ist. Migrant_innen sind besonders häufig in den Sektoren zu finden, die am stärksten von der Krise betroffen sind: Landwirtschaft, Haus- und Pflegearbeit, öffentliche Gesundheitsfürsorge, Lebensmittelindustrie, Baugewerbe, Tourismus, Verkehr. „Sie setzen ihr Leben für uns alle aufs Spiel. Ihre Arbeit ist lebenswichtig, aber sie sind die Vergessenen“, so ETUC.
Traurige Symbolkraft für den schlechten Schutz von migrantischen Arbeiter_innen hat der Tod eines 57-jährigen Erntehelfers aus Rumänien am 11. April in Bad Krozingen bei Freiburg. Der Mann hatte dort bei der Spargelernte geholfen. Nur wenige Tage später wurde das Virus bei 16 weiteren Erntehelfer_innen in Bad Krozingen nachgewiesen.
Das verwundert nicht. Denn trotz der Corona-Schutz-Regelungen für Erntehelfer_innen kommt es in Deutschland zu Verstößen gegen die Regeln des Gesundheitsschutzes in der Landwirtschaft. Nach Recherchen des ARD-Magazins „Panorama“ werden Erntehelfer_innen in großen Betrieben, etwa in Rheinland-Pfalz, weiterhin in Gruppen von mehr als 40 Personen in jeweils einem Anhänger vom Hof zu den Feldern transportiert. Dabei tragen die Helfer_innen oft keine Masken. Arbeitsgruppen haben eine Größe von bis zu 45 Personen. Sie sind außerdem weiterhin in Mehrbettzimmern mit voller Auslastung untergebracht. Nach den in großen Teilen Deutschlands geltenden allgemeinen Ausgangsbeschränkungen wegen der Corona-Krise dürfen Gruppen eigentlich die Familiengröße nicht überschreiten.
Dabei hatten das Bundesinnenministerium und das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft am 2. April ein Konzept beschlossen, unter welchen Bedingungen Saisonarbeiter_innen wieder einreisen dürfen. Darin steht unter anderem, dass die Erntehelfer_innen in möglichst kleine Gruppen von fünf bis maximal ca. 20 Personen aufgeteilt werden. Zimmer sollen halb belegt werden. Doch viele Bauern interpretieren die Regelungen so, dass die Arbeitsgruppenbeschränkung und die halbe Zimmerbelegung nicht für die 20.000 Erntehelfer_innen gelten, die bereits vor dem 2. April nach Deutschland eingereist sind.
Die ausländischen Erntehelfer_innen leiden seit Jahren unter Verstößen gegen den Mindestlohn, schlechte Unterbringung und überlangen Arbeitszeiten, sagt Szabolcs Sespi vom Projekt Faire Mobilität. Die Corona-Umstände würden diese verschärfen. Weil die Helfer_innen nicht einkaufen dürfen, seien die Spargelhöfe für die Versorgung zuständig – und versuchen dafür teils überzogene Kosten in Rechnung zu stellen. Das größte Problem: „Die Helfer können den Arbeitgeber nicht mehr wie in früheren Jahren wechseln, wenn ihnen die Bedingungen zu schlecht sind.” Denn Ein- und Ausreise wird über den Betrieb organisiert, ein Wechsel ist nicht vorgesehen. „Ausgerechnet jetzt, wo die Verhandlungsposition der Helfer gut wäre, weil es wenige gibt, wird ihre Marktmacht ausgeschaltet”, sagt Sespi.
Erntehelfer_innen sind nicht die einzigen Migrant_innen, denen Corona Probleme macht. Eine Recherche des WDR ergab, dass bereits erteilte Visa für Reisen, die wegen Corona nicht angetreten werden können, im Ausland nicht verlängert werden und deshalb verfallen. Antragsteller_innen, die mitunter Jahre auf ein Visum gewartet haben, müssen einen neuen Antrag stellen und die Prozedur von vorne beginnen. Die neu zu stellenden Anträge führen zu einer zusätzlichen Belastung der sowieso bereits überlasteten Visa-Antragsstellen. Familientrennung wird unnötig in die Länge gezogen, was immense Folgen für Ehepartner_innen, (werdende) Eltern und Kinder haben kann.
Die Gruppe „Corona Border Monitoring“ des Netzwerkes für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) berichtet darüber hinaus von Abweisungen bulgarischer Staatsbürger_innen durch die Bundespolizei an den Flughäfen Berlin, Frankfurt und Tegel. Teils seien die Menschen vor ihrem Rückflug in Gewahrsam festgehalten worden. Nachdem die Reisenden zurückgeschickt wurden, mussten sie in Bulgarien für zwei Wochen in Quarantäne. Bulgarien ist Mitglied der EU, aber nicht Teil des Schengener Abkommens.
Der Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück hält die Pandemie für eine Migrationsbremse. „Im Moment reden wir eher über Immobilisierung und weniger über Mobilisierung“, sagt Oltmer. „Eine zentrale Aussage der Migrationsforschung aus ganz vielen Studien besagt: Armut behindert Migration, Armut verhindert Migration, Armut führt eher dazu, dass Menschen festsitzen.“ Er beklagte eine zunehmende Stigmatisierung und Diskriminierung von Ausländern und Migranten, „weil sie als potenzielle Überträger des Virus gelten“. Das sei ein erhebliches Problem für die Betroffenen, aber auch für die westlichen Staaten, denn sie seien – etwa in der Pflege – auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Problematisch ist nach den Worten des Forschers auch, „dass solche Stigmatisierungen und Vorurteile sich lange halten“.
Infos zu Corona und Arbeitsrechten vom Projekt Faire Mobilität: https://bit.ly/3azUHzE
IMIS-Forscher Jochen Oltmer zur Pandemie als Migrationsbremse: https://bit.ly/2yBEJrs
Stellungnahme des Europäischen Gewerkschaftsverbandes ETUC zu Corona und Arbeitsmigration: https://bit.ly/2x7I7tO
ver.di zu Amazon und Corona: https://bit.ly/2KsJfen
Zur Situation bei Westfleisch, wo sich 300 rumänische Werkvertragsbeschäftigte mit dem Corono-Virus infiziert haben: https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/mueller-fleisch-in-pforzheim-die-fabrik-der-corona-infizierten-a-fd3985b2-1191-479a-b2fa-063bd7192f05