
„Talente“ rein, Flüchtlinge raus
Schon im Mai hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre neue Migrationsagenda vorlegen wollen. Das Regelwerk soll die Asyl- und Zuwanderungspolitik der Union komplett neu regeln. Vor allem beim Thema Flüchtlingsverteilung gibt es dabei zwischen den 27 Mitgliedstaaten enorme Differenzen. Der am 23. September vorgestellte Pakt scheitert deshalb nach Meinung der meisten Expert_innen daran, die EU-Asylpolitik menschenrechtsorientiert neu aufzustellen. Deutlich weniger Aufmerksamkeit bekamen von der Leyens Vorschläge für Reformen im Bereich Fachkräftezuwanderung.
Nach dem Willen der Kommission sollen – genau wie im Asylbereich – die Mitgliedstaaten auch in Zukunft allein entscheiden, wie viele Arbeitssuchende sie aus Drittländern aufnehmen. Gleichwohl will die Kommission die legale Migration durch ein neues „Paket zu Kompetenzen und Talenten” fördern. Dafür will sie unter anderem Menschen mit langfristiger Aufenthaltsberechtigung erleichtern, sich in andere Mitgliedstaaten zu begeben und dort zu arbeiten.
Für Menschen, die zur Beschäftigungsaufnahme in die EU kommen, soll es in Zukunft ein einheitliches Verfahren geben. Das soll die Aufnahme- und Aufenthaltsbedingungen für Arbeitnehmer_innen vereinheitlichen, die „nicht der Kategorie ,Hochqualifizierte’ angehören”, so die Kommission. Das werde „Arbeitskräftemangel und Qualifikationsdefiziten in Schlüsselsektoren der EU-Wirtschaft” lindern.
Weiter will die Kommission darauf drängen, dass die Verhandlungen über die so genannte Blaue Karte EU zum Abschluss gebracht werden. Die Blaue Karte regelt seit 2009 den Zugang von hoch qualifizierten Drittstaatsangehörigen auf den europäischen Arbeitsmarkt. „Die EU verliert derzeit den globalen Wettlauf um Talente”, heißt es in einer Erklärung der Kommission. „Andere OECD-Länder, wie die USA, Kanada und Australien, ziehen mehr Talente aus dem Ausland an.”
Schon 2016 hatte die Kommission deshalb vorgeschlagen, die Mindestdauer für einen Arbeitsvertrag – der Voraussetzung für die Erteilung einer Blue Card ist – von zwölf auf sechs Monate zu verkürzen. Das Mindestgehalt soll vom Anderthalbfachen des nationalen Durchschnittsentgelts auf eine Spannweite vom 1- bis 1,4-fachen des Durchschnittsentgelts ersetzt werden. Für Hochschulabsolventen und Beschäftigte in Mangelberufen soll ein noch niedrigerer Schwellenwert von 80 Prozent des Durchschnittslohns gelten.
Die Mobilität von Blue-Card-Inhabern innerhalb der EU und die Möglichkeit, ein dauerhaftes Bleiberecht zu erwerben, sollen verbessert werden. Grundsätzlich soll eine Blue Card auch Geflüchteten erteilt werden können, wenn sie die entsprechenden Qualifikationen vorweisen können. Über die Vorschläge verhandeln Rat und Parlament bis heute.
Außerdem will von der Leyen so genannte „Fachkräftepartnerschaften” einführen. Dabei sollen qualifizierte Arbeitskräfte, Arbeitgeber_innen, Sozialpartner_innen, Arbeitsmarkteinrichtungen sowie Bildungseinrichtungen miteinander verbunden werden. Geld soll dabei für so genannte Mobilitätsprogramme für Arbeit oder Ausbildung fließen. Die Partnerschaften sollen mit dem Programm Erasmus+ und Maßnahmen aus der Entwicklungszusammenarbeit verknüpft werden.
Nach Angaben der EU-Kommission waren 2019 durchschnittlich 191,5 Mio. Menschen zwischen 20 und 64 Jahren auf dem EU-Arbeitsmarkt beschäftigt, 8,8 Millionen davon (4,6 Prozent) waren Nicht-EU-Bürger_innen. Bei vielen von diesen handele es sich um „systemrelevantes Personal“, so die Kommission. Besonders viele Nicht-EU-Bürger_innen arbeiteten in der Hotellerie und Gastronomie (13,2 Prozent Gesamtbeschäftigung von Nicht-EU-Bürgern) oder als Haushaltshilfe (7,5 Prozent).
Die Vorschläge für die Fachkräfte-Zuwanderung gingen in der heftigen Kritik an den Reformvorschlägen im Bereich Asyl unter. Da setzt die EU vor allem auf schnellere Verfahren und Abschiebungen direkt von den Außengrenzen. DGB Vorstand Anja Piel nannte dies „bestürzend”: „Nach jahrelangem Stillstand bei der gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik haben wir von der EU bei Weitem mehr erwartet, als Symbolpolitik auf dem Rücken der Geflüchteten“, so Piel. Die zögerliche europäische Politik habe bereits tausende von Todesopfern gefordert. „Auch ist sie verantwortlich für die Ertrinkenden im Mittelmeer und für das Elendslager in Moria.
Zu befürchten bleibt, dass die Verhandlungen der europäischen Staats- und Regierungschefs durch nationalstaatliche Interessen dominiert werden – humanitärer Fortschritt Fehlanzeige. Die Europäische Union braucht mehr Solidarität und eine gemeinsame Handlungsebene in der Migrations- und Flüchtlingspolitik – besser heute als morgen.
Übersicht Pläne Arbeitsmigration: https://bit.ly/2FuhQdd
Übersicht Kritik am Asylpaket: https://bit.ly/2H1qmkD