Systemrelevant, aber prekär
Kommentar von Deniz Azad, IG BAU
Saisonarbeitskräfte stellen durch ihre Arbeit die systemrelevante Lebensmittelversorgung sicher. So sind es Saisonarbeiter_innen aus Rumänien, Polen und anderen osteuropäischen Ländern, die jedes Jahr bei der Ernte von Erdbeeren oder Spargel anpacken und auch im Herbst bei der Gurken- oder Obsternte, nicht mehr wegzudenken sind. Auf den Schultern der migrantischen Beschäftigten, welche Saison für Saison auf den landwirtschaftlichen Flächen bei der Ernte arbeiten, lasten Teile der Lebensmittelversorgung von Volkswirtschaften.
Ihre Arbeit ist ein Wirtschaftsfaktor. Lebensmittelversorgung hat Systemrelevanz. Jedoch gehören Saisonbeschäftigte aus osteuropäischen Staaten, seien es EU-Mitgliedsstaaten oder Drittstaaten, vielfach zu einer besonders prekarisierten Gruppe von Arbeiter_innen. Es fehlen die Sprachkenntnisse und es fehlt oft an Aufklärung zu gesetzlichen Mindeststandards. Saisonarbeitskräfte stehen zu ihren Arbeitgeber_innen in einem enormen Abhängigkeitsverhältnis, weshalb Missstände oft nicht angesprochen werden – zu groß ist die Angst vor dem Jobverlust.
Hinzukommen strukturelle Nachteile, wie etwa die fehlende Sozialversicherungspflicht für Saisonarbeitskräfte. Die kurzfristige Beschäftigung erlaubt es, unter bestimmten Voraussetzungen, einer sozialversicherungsfreien Lohnarbeit in Deutschland nachzugehen, also ohne Krankenversicherungsschutz, ohne den Aufbau von Rentenanwartschaften, ohne Absicherung bei Arbeitslosigkeit und ohne eine Pflegeversicherung. Lediglich die Unfallversicherung besteht weiterhin über die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau.
Insbesondere das Fehlen einer Krankenversicherung, die den Leistungen einer gesetzlichen Versicherung entspricht, stellt ein großes Problem für die Saisonarbeitskräfte dar. Sobald ein Krankheitsfall auftritt und die/der Beschäftigte in das Krankenhaus muss, dauert es nicht lange bis die privat zu begleichende Rechnung eintrifft. Die Annahme, dass wer einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht, auch eine eigene Krankenversicherung haben muss, stimmt indes nicht mit der Lebensrealität von migrantischen Saisonarbeitskräften überein. Um Sozialversicherungsbeiträge zu sparen, ist die Kurzfristige Beschäftigung nur möglich unter zwei Kriterien: Erstens dürfen maximal 70 Arbeitstage bzw. 3 Monate in einem Kalenderjahr gearbeitet werden, zweitens muss bei einem Einkommen von mehr als 450 Euro im Monat eine „nicht berufsmäßige“ Tätigkeit ausgeübt werden. Das bedeutet, dass beispielsweise für eine rumänische Saisonarbeiterin, die Beschäftigung in Deutschland nicht von übergeordneter wirtschaftlicher Bedeutung ist und nicht zur Sicherung des Lebensunterhaltes dient.
Der Gedanke dieser Regelung, welche ursprünglich für einen sehr kleinen Personenkreis gedacht war – vor allem Schüler_innen und Studierende – ist, dass die Betreffenden in ihren Herkunftsländern bereits eine Sozialversicherung haben.
Jedoch werden die Kriterien, insbesondere die Nicht-Berufsmäßigkeitsregel, lediglich durch einen selbstauszufüllenden Fragebogen kontrolliert. Es bleibt bei dieser Beschäftigungsform die dringende Frage: Warum sollten Menschen Jahr für Jahr für eine Saison nach Deutschland kommen und härtester körperlicher Arbeit nachgehen, wenn nicht aus einem übergeordneten wirtschaftlichen Interesse heraus oder zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes?
Die Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ist seit nunmehr über sechs Monaten im Amt. Der Koalitionsvertrag für die Zeit bis 2025 zwischen den Koalitionär_innen versteht sich als Weichenstellung. Die Bundesregierung gibt sich darin auch folgendes Ziel: „Für Saisonbeschäftigte sorgen wir für den vollen Krankenversicherungsschutz ab dem ersten Tag.“ Leider ist davon auf den deutschen landwirtschaftlichen Flächen bei den migrantischen Saisonarbeitskräften bisher nichts zu sehen.
Ein voller Krankenversicherungsschutz ab dem ersten Tag der Beschäftigung, der mindestens dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht, wäre ein guter erster Schritt, um dem strukturellen Nachteil von Saisonarbeitskräften zu begegnen. Die Bundesregierung bleibt hier deutlich hinter ihren eigenen Ansprüchen für Saisonbeschäftigte zurück, was außerordentlich kritisch zu sehen ist.
Aber auch mit einer vollen Krankenversicherung ab dem ersten Tag der Beschäftigung, gäbe es weitere Weichenstellungen, wie etwa die Möglichkeit des Ansparens von Rentenanwartschaften. Menschen, die seit Jahrzehnten jedes Jahr in Deutschland auf Spargelfeldern arbeiten, sollten für diese Zeit eine Rente aus Deutschland erhalten können. Die Arbeit von migrantischen Saisonarbeitskräften ist ein wesentlicher Beitrag für die Lebensmittelversorgung aller. Sie verdienen einen Krankenversicherungsschutz, der den Namen verdient, sie verdienen eine Pflegeversicherung und sie verdienen auch die Absicherung im Falle der Arbeitslosigkeit.
Entnommen aus Forum Migration Juli 2022