
"Statistisch erhöhte Mortalität"
Anfang März erregte die Bild-Zeitung Aufsehen mit der Aussage „90 Prozent” der Covid-Intensivpatient_innen hätten einen Migrationshintergrund und laut dem Direktor des Robert-Koch-Instituts (RKI) lägen „deutlich über 50 Prozent“ Menschen muslimischen Glaubens auf den Intensivstationen. Rechte Nachrichtenportale griffen die Behauptung auf und schrieben etwa von „Muslimen als Superspreader”. Das RKI widersprach: Die Zahlen seien „aus dem Zusammenhang gerissen”, sie hätten sich auf konkrete Berichte von Ärzten dreier Intensivstationen bezogen und spiegelten „nicht die Situation in ganz Deutschland wider.“ Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) distanzierte sich von den Behauptungen und wies darauf hin, dass in den Krankenhäusern weder „Sprachbarrieren” noch „Migrationshintergrund” überhaupt statistisch erfasst würden. „Wir behandeln schwerkranke Menschen – Herkunft interessiert uns nicht”, schrieb DIVI-Präsident Gernot Marx auf Twitter. Die Debatte war offenkundig von der – berechtigten – Sorge getrieben, ein entsprechender Befund könnte zu populistischer Stimmungsmache ausgeschlachtet werden. Doch dass Menschen mit Migrationshintergrund sich womöglich häufiger mit Covid-19 infizieren und zudem häufiger schwere Verläufe haben könnten ist durchaus denkbar – sollte die Gesellschaft sehr wohl interessieren, sagt der Epidemiologe Prof. Hajo Zeeb aus Bremen.
ForumMigration: Herr Zeeb, erleiden Migrant_innen häufiger schwere Covid19-Verläufe?
Hajo Zeeb: Es gibt zu wenig klare Daten dazu, nur anekdotische Evidenz von einzelnen Kliniken. Weder die Krankenhäuser noch Krankenkassen haben entsprechende Daten. Selten gibt es etwa Infos zum Geburtsland bei Migrant_innen, aber schon Migrationshintergrund zweiter Generation wäre damit ja nicht erfasst. Die Daten etwa aus Großbritannien – dort werden Informationen zu sozioökonomischen Variablen wie Beruf oder ethnischer Hintergrund erfasst – geben darauf allerdings klare Hinweise. Dort sind unter ethnischen Minoritäten (,Black, Asian and Minority Ethnic – BAME communities‘) klar erhöhte Infektionsraten, bis hin zu statistisch erhöhter Mortalität festzustellen.
Warum ist das so?
Soziale Benachteiligungen, leider auch gepaart mit größerer Skepsis gegenüber der Impfung. Beides ist nachteilig für ethnische Minoritäten. Was es in Deutschland gibt sind Daten dazu, dass Hospitalisierung, also schwere Covid-Verläufe, bei Arbeitslosigkeit häufiger auftreten. Arbeitslosigkeit ist ein wichtiger sozioökonomischer Marker. Die sozioökonomischen Lebensbedingungen bestimmen, welche Ressourcen jemand hat, um sich zu schützen. Unter Migrant_innen gibt es häufiger ungünstige Lebensbedingungen mit Armut, geringeren Einkommen oder schlechten Wohnbedingungen, die eine Ausbreitung des Virus erleichtern.
Haben auch die Beschäftigungsformen einen Einfluss?
Eindeutig. Migrant_innen sind häufig in Branchen wie Transport, Logistik, Lebensmittelindustrie oder Schlachthöfen beschäftigt. Dort liegt erstens das Einkommen niedriger und zweitens tragen die Arbeitsbedingungen oft zu einem erhöhten Infektionsrisiko bei.
Es gab viele Untersuchungen über „kulturelle Hürden“ in der Gesundheitsversorgung, weshalb Migrant_innen seltener zum Arzt gehen, deshalb Krankheiten teils unbehandelt bleiben und sich die Anfälligkeit für weitere Erkrankungen erhöht. Spielt das auch im Kontext von Covid eine Rolle?
Es gibt solche Untersuchungen, wonach die Teilnahme an Arztbesuchen und Prävention insgesamt niedriger ist. Sie liegt aber in Deutschland immer noch auf sehr hohem Versorgungsniveau. Ein anderer Punkt sind ältere Menschen. Eigentlich müsste dieser Faktor Migrant_innen schützen, weil diese im Schnitt jünger sind. Wenn sie trotzdem öfter und schwerer erkranken, müssen die anderen Faktoren einen umso stärkeren Effekt haben. Auch die Informationslage wird hier zum Infektionsgeschehen beigetragen haben. Bis Informationsmaterial in anderen Sprachen als Deutsch verfügbar war, hat es etwas gedauert, etwa bei der Corona-Warn-App, um nur ein Beispiel zu nennen. Dann ist aber noch die Frage, ob die Informationen in gleichem Maße Familien mit Migrationshintergrund erreichen wie sie andere erreichen.
Wenn es diese Faktoren gibt, war es dann klug, die Debatte über mehr migrantische Covid-Intensivpatienten mit normativen Aussagen wie „Herkunft darf bei der Behandlung keine Rolle spielen” zu blockieren, um keine populistische Stimmungsmache zu begünstigen?
Tatsächlich gab es offenbar die Befürchtung, es könnte eine populistische Diskussion entstehen, das kann ja auch leicht passieren. Aber aus Public Health-Sicht ist es wichtig zu schauen, welche Probleme es gibt, die man minimieren will. Da waren hier zwei etwas gegeneinander laufende Intentionen. Man bräuchte da eine vernünftige Diskussion, vor allem auch mit den Migrant_innen, das müsste aber alles weit vorher ansetzen, nicht an der Intensivstation, sondern in der Prävention.
Prof. Hajo Zeeb lehrt an der Universität Bremen und leitet die Abteilung Prävention und Evaluation am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Bei der Weltgesundheitsorganisation arbeitete er in der Abteilung Public Health and Environment.
RTL-Beitrag zum Thema mit Daniel Weber vom DGB Bildungswerk: https://bit.ly/3lsZji1
„Faktencheck” des Recherche-Portals Correctiv: https://bit.ly/3s0Ow0X
Stellungnahme DIVI: https://bit.ly/3r1m7qe