
Spargel, Schweine, Gastro: Die Corona-Hotspots
Die Infektionszahlen in Deutschland gehen zurück – außer da, wo viele Migrant_innen arbeiten: In der Landwirtschaft, der Agrarindustrie und der Gastronomie.
1.200 Menschen arbeiten bei Westfleisch in Coesfeld (NRW) – mindestens 283 von ihnen haben sich im Mai positiv mit dem neuartigen Corona-Virus infiziert. Der Betrieb wurde für eineinhalb Wochen vorübergehend geschlossen. Im Schlachtbetrieb West-crown in Dissen nahe Osnabrück hatte der Landkreis 146 überwiegend osteuropäische Mitarbeiter_innen positiv getestet, auch hier ruhte daraufhin der Betrieb. Der Landkreis Emsland meldete zwei positiv auf das Coronavirus Getestete aus einem Schlachtbetrieb. In einem Schlachthof in Birkenfeld bei Pforzheim infizierten sich in der ersten Maihälfte rund 400 der etwa 1.100 Mitarbeiter_innen. In einem mittlerweile geschlossenen Schlachthof in Bad Bramstedt (Kreis Segeberg) wurden 124 Mitarbeiter positiv auf das neuartige Coronavirus getestet. Und Ende Mai wurden in einem niederländischen Schlachthof in Groenlo unweit der Grenze zu Deutschland 147 der 657 Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet.
Zufall? Keineswegs.
Die meist aus Rumänien oder Bulgarien stammenden Arbeiter würden von Subunternehmen beschäftigt, die sich nicht an deutsches Arbeitsrecht hielten, sagte etwa Wilfried Bommert vom Institut für Welternährung dem Evangelischen Pressedienst. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gebe es für die Schlachthofarbeiter nicht. „Das heißt, die arbeiten auch, wenn sie krank sind, weil es sonst keinen Lohn gibt. Das ist der ideale Nährboden für Krankheitserreger.“ Eine „Soko Fleischwirtschaft“ wäre „keine falsche Idee. Denn in der Frage haben wir es mit einem kriminellen Milieu zu tun“, so Bommert.
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) forderte ein Verbot von Werkverträgen. Den Fleischkonzernen müsse es unmöglich gemacht werden, Kernaufgaben wie das Schlachten und Zerlegen von Tieren an billige und teilweise dubiose Fremdfirmen auszulagern. „Die Wurzel allen Übels sind skandalöse und Tier- als auch Menschenwohl verachtende Arbeits- und Lebensbedingungen, basierend auf Werkverträgen“, sagte der stellvertretende NGG-Vorsitzende Freddy Adjan. „Die Fleischbranche hat sich einer Selbstverpflichtung unterworfen, einem Kodex, und alles hat nichts genützt“, so Adjan. „Es müssen jetzt gesetzliche Regelungen her, und zwar für die komplette Fleischbranche.“ Er sprach von „unmenschlichen Zuständen“ in den Schlachthöfen. Angesichts der Arbeitsbedingungen und der Unterbringung der Beschäftigten sei es nur „eine Frage der Zeit“ gewesen, „bis diese Pandemie dort durchschlägt“. Die Kontrollen müssten deutlich verschärft werden. Das „Krebsgeschwür“ der Werkverträge müsse entfernt werden. Zudem forderte er normale Mietpreise statt Wucherpreisen bei der Unterbringung der Beschäftigten. Argumente der Fleischlobby wie Abwanderung, Arbeitsplatzverluste und steigende Preise lasse er nicht gelten, sagte Adjan. „Fleisch ist in Deutschland so billig wie fast nirgendwo in Europa.“
Der katholische Pfarrer Peter Kossen hat den Plan der Bundesregierung, Leiharbeit in der Fleischindustrie einzuschränken gelobt. Dies sei „ein wichtiger Lösungsansatz“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Der aus dem niedersächsischen Vechta stammende Priester setzt sich seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie ein und prangert Missstände an (Forum Migration 10/2018). „Wir haben heute die Situation, dass in vielen Großschlachtereien das Verhältnis von Leiharbeitern zu Stammbelegschaften bei 80 zu 20 liegt“, sagte der Theologe.
Auch in der Landwirtschaft schlagen sich Praktiken ausbeuterischer Beschäftigung von Migrant_innen in einem erhöhten Infektionsrisiko nieder. Mitte Mai protestierten etwa 50 Erntehelfer_innen des Spargelhofes Ritter in Bornheim bei Bonn gegen die Wohn- und Arbeitsbedingungen. Die überwiegend rumänischen Helfer hatten schwere hygienische Mängel in den dicht gedrängten Baucontainern beziehungsweise den Sanitäranlagen beklagt. Der Bonner General-Anzeiger hatte berichtet, dass rund 240 Erntehelfer teils zu viert oder zu fünft auf einem Zimmer untergebracht seien. Im April hatten sich 17 Erntehelfer_innen eines einzigen Spargelhofs in Baden-Württemberg infiziert, einer war gestorben (Forum Migration 05/2020).
Und im niedersächsischen Leer steckten sich unmittelbar nach Wiedereröffnung der Gastronomie 18 Menschen nach einem Restaurantbesuch an. Auch in dieser Branche sind Migrant_innen überproportional häufig beschäftigt.
Die Landwirte können derweil auch über das Frühjahr hinaus auf ausländische Saisonkräfte zählen. Innenminister Horst Seehofer (CSU) sagte, er stehe einer Verlängerung von Sonderregeln zur Einreise wegen der Corona-Krise „positiv gegenüber“. Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) betonte, es sei nach wie vor notwendig, diese Fachkräfte mit Auflagen zum Gesundheitsschutz in Deutschland zu haben. Im Juni stehe etwa der Beginn der Kirschenernte an.
Linke-Fraktionsvize Susanne Ferschl kritisierte dies: „Erst der Spargel, jetzt Kirschen und Äpfel – die Lobby macht Druck, und die Regierung liefert.“ Die Zeche für billiges Essen zahlten weiter osteuropäische Erntehelfer. Trotz Kritik an Arbeitsbedingungen auf den Feldern und in der Fleischindustrie gehe die Zahl der Arbeitsschutzkontrollen immer weiter zurück.
Deutschlandfunk-Interview mit Mohamed Boudih, NGG: https://bit.ly/3d925nH
FAQ Erntehelfer und Corona von Fair Arbeiten: https://bit.ly/3egxIMo
Übersicht zum Thema auf EU-Ebene vom EU Observer: https://bit.ly/3gindtv
Twitter Infothread der Hans-Böckler-Stiftung: https://bit.ly/3bWy6Ol