
Pflege: 24 h Arbeit, 24 h Lohn
Sie stammen meist aus Osteuropa: So genannte „Live-Ins“ sind privat beschäftigte Pflegekräfte, die alte oder kranke Menschen rund um die Uhr in deren Wohnung versorgen, auch selbst dort leben – und in vielen Fällen ausgebeutet werden (Forum Migration November 2019). Das Bundesarbeitsgericht hat nun ihre Rechte gestärkt. Ende Juni entschied es: Die „Live-Ins” können Anspruch auf den Mindestlohn für 24 Stunden täglich haben – auch für Bereitschaftszeiten und gegenüber ausländischen Arbeitgebern gilt dieser Anspruch.
Geklagt hatte die Sozialassistentin Dobrina D. aus Bulgarien, die 2015 eine Seniorin in deren Berliner Wohnung sieben Monate versorgt hatte. D. hatte einen Arbeitsvertrag über 30 Wochenstunden und bekam dafür rund 950 Euro monatlich. Ihr Arbeitgeber war ein bulgarisches Unternehmen, das mit einer deutschen Vermittlungsagentur kooperierte, die wiederum mit „24-Stunden-Pflege zu Hause“ geworben hatte. D. musste nahezu rund um die Uhr für Sorgetätigkeiten zur Verfügung stehen, ihre Zimmertür musste sie nachts offen lassen, um im Notfall jederzeit helfen zu können. Zunächst mit Unterstützung der Beratungsstelle für entsandte Beschäftigte, später mit der DGB Beratungsstelle ,Faire Mobilität‘ und ver.di hatte D. vor dem Arbeitsgericht Berlin und dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (LAG) auf Nachzahlung von vorenthaltenem Arbeitslohn geklagt. Sie verlangte den Mindestlohn für 24 Stunden täglich, insgesamt 42.636 Euro für die sieben Monate. Das LAG sprach ihr rund 38.000 Euro für täglich 21 Arbeitsstunden zu.
Wegen der hohen Streitsumme und weil das Urteil grundsätzliche Bedeutung für das Geschäftsmodell der 24-Stunden-Pflege hatte, legte die bulgarische Agentur Rechtsmittel ein. Auch der Prozessvertreter des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes hatte die Entscheidung des LAG moniert, die ursprüngliche Forderung von 24 auf 21 Arbeitsstunden täglich zu kürzen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) bestätigte nun, dass Betreuer_innen, die rund um die Uhr arbeiten oder sich nachts auf Zuruf bereithalten müssen, der Mindestlohn für volle 24 Stunden pro Tag zustehen kann.
Das Urteil wird erhebliche Auswirkungen auf den Pflegesektor haben. Denn die häusliche Pflege eines Angehörigen kann bis zu 12.000 Euro im Monat kosten. Einen Teil übernimmt die Versicherung, doch auch den Rest können viele Familien kaum aufbringen. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung von 2017 geht davon aus, dass deshalb etwa jeder zwölfte der rund 2,6 Millionen Pflegehaushalte in Deutschland eine mit im Haus lebende, meist aus Osteuropa stammende Hilfskraft beschäftigt. Diese wechseln sich in der Regel in einem Rotationssystem von zwei bis drei Monaten ab und pendeln zwischen Deutschland und ihrem Herkunftsland. Das Forschungsteam „Decent Care Work“ der Uni Frankfurt schätzt, dass bis zu 500.000 Migrant_innen auf diese Weise als Live-Ins in Deutschland arbeiten.
„Auch wer in anderen EU-Ländern unter Vertrag steht, hat in Deutschland elementare Schutzrechte bei Lohn und Arbeitszeiten”, sagte das DGB Vorstandsmitglied Anja Piel. Das BAG-Urteil schränke die Chancen für ausbeuterische Geschäftsmodelle ein, mit denen sich Vermittler bisher zu Lasten der Beschäftigten eine goldene Nase verdienen konnten. „Dieser Erfolg wurde mit gewerkschaftlicher Unterstützung erzielt – das zeigt einmal mehr die Bedeutung muttersprachlicher Beratungsstrukturen wie ,Faire Mobilität‘ als Anlaufstelle für ausländische Beschäftigte”, sagte Piel.
Ein Problem sei, dass die Arbeitsvermittler_innen nicht reguliert seien, sagt Christiane Tenbensel, Beratungsreferentin beim DGB Projekt Faire Integration in Dortmund. „Jeder kann eine Anwerbeorganisation aufmachen.” Anwerbeverträge würden oft „absichtlich schwammig formuliert”, mit dem Ziel Jobsuchende abzukassieren. Ihr seien Fälle bekannt, in denen Pflegekräfte den Vermittlern Kosten von bis zu 23.000 Euro schulden. „Das können die nie in ihrem Leben abbezahlen”, sagt Tenbensel.
Dickfellige Arbeitgeber und Vermittlungsagenturen setzen sich mit dem Angebot der Rund-um-die-Uhr-Betreuung seit Jahren über geltendes Recht hinweg, sagt dazu Anja Piel vom DGB Vorstand. Für die Auftraggeber sei dies ein „Sorglos-Paket“, für Arbeitgeber und Vermittlungsagenturen eine Goldgrube, für die Beschäftigten aber „pure Ausbeutung”. Trotz 24-Stundentag mit Arbeit und Bereitschaft erhielten sie höchstens den Mindestlohn für acht Stunden – wenn überhaupt. „Mit unübersichtlichen Entsende- und Vermittlungsmodellen sparten die Arbeitgeber außerdem maximal möglich an Sozialbeiträgen“, so Piel. Den Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen, die auch auf dieses Modell angewiesen sind, müsse Gesundheitsminister Spahn jetzt seine Versäumnisse erklären. „Er hätte die Pflegepolitik neu ausrichten und die Pflegeversicherung zu einer Bürgerversicherung umbauen können, die sämtliche Pflegeleistungen abdeckt”, sagte Piel.
Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell hält nach dem BAG-Urteil weitere Klagen osteuropäischer Frauen für möglich. Betroffene Familien könnten auch rückwirkend mit erheblichen Nachforderungen konfrontiert werden, sagte Sell dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Alle Risiken mit der faktisch illegalen Beschäftigung werden vollständig auf die Familien verlagert.“ Grundsätzlich werde sich mangels Alternative aber zunächst wenig daran ändern, dass Osteuropäerinnen sich in Deutschland zu rechtswidrigen Bedingungen um pflegebedürftige Menschen kümmern. Andreas Westerfellhaus, der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, forderte eine Reform der 24-Stunden-Betreuung. „Es wäre klug, dazu die beteiligten Ministerien, Pflegekassen, Vermittlungsagenturen und Kontrollbehörden wie den Zoll an einen runden Tisch zu bringen“, sagte Westerfellhaus dem Spiegel. Die nächste Bundesregierung müsse sich „unmittelbar nach der Wahl“ darum kümmern.
Fast zeitgleich mit dem Karlsruher Urteil ist am 1. Juli 2021 das „Gesetz zur Sicherung der Qualität der Gewinnung von Pflegekräften aus dem Ausland” in Kraft getreten. Das regelt unter anderem die Erteilung eines neuen Gütesiegels „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“. Dessen Inhaber ist das Bundesministerium für Gesundheit, Herausgeber ist das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA), das auch den Entwurf für die Kriterien des Siegels entwickelte. Die sollen konkrete Vorgaben für den Anwerbungs- und Vermittlungsprozess machen. Das Siegel kann von anwerbenden Pflege- und Gesundheitseinrichtungen sowie von privaten Personalvermittlungsagenturen beantragt werden.
Doch wie effektiv das Siegel Ausbeutung eindämmen kann, hängt von den konkreten Kriterien ab. Und über die herrscht keine Einigkeit. Ein Streitpunkt etwa sind Eigenleistungen und Vorabzahlungen der Arbeitnehmenden. Laut dem KDA-Entwurf sollen sie weiter möglich sein, die Gewerkschaften sehen darin jedoch „hohes Potenzial für Betrug“. Strittig ist auch, ob möglich bleiben soll, dass Pflegekräfte den deutschen Arbeitgebenden einen Restbetrag an den Anwerbekosten in Höhe eines halben Bruttomonatsgehalts erstatten sollen, wenn sie innerhalb von zwei Jahren kündigen. Die Gewerkschaften sehen darin ein Instrument zur Zementierung ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse. „Im Gegenteil sollten Vertragsstrafen als unzulässiges Mittel eingestuft werden“, heißt es beim DGB.
„Ende eines Ausbeutungsmodells?” – Stellungnahme der Beratungsstelle Faire Mobilität
Studie „Pflege in den eigenen vier Wänden” der Hans-Böckler-Stiftung (2017)
Projekt Decent Care Work, Uni Frankfurt
ILO-Report „Care work and care jobs for the future of decent work”
„Pflegearbeit weltweit”, Sonderausgabe NordSüd News
Sie arbeiten als häusliche Betreuerin (Live-In)/Haushaltshilfe in einem Privathaushalt in Deutschland oder haben vor, diese Arbeit demnächst aufzunehmen? Das DGB Projekt Faire Mobilität hat die Antworten auf die wichtigsten Fragen zu Themen wie Lohn, Nachtarbeit oder Arbeitsvertrag in einem mehrsprachigen FAQ zusammengestellt: https://bit.ly/3wxNU4v
Entnommen aus Forum Migration August 2021