
Perspektiven für Geflüchtete
Russlands Krieg gegen die Ukraine geht in den dritten Monat, rund 370.000 Flüchtende registrierte die Bundespolizei bis Ende April in Deutschland. Vieles muss getan werden, um die Ankommenden angemessen zu versorgen – und jetzt die Weichen für eine womöglich längerfristige Aufnahme zu stellen. Gewerkschafter_innen bemühen sich, ihren Teil dazu beizutragen.
„Es ist dringend notwendig, die Grenzen für die Millionen Flüchtenden ohne Unterschied offenzuhalten und ihnen Schutz und Hilfe zu geben“, heißt es in einer Resolution des ver.di-Gewerkschaftsrates. Eine der wohl wichtigsten Voraussetzungen dafür ist eine ausreichende staatliche Finanzierung für die Kommunen. Diese hatten verlangt, dass Bund und Länder sie „vollumfänglich“ entlasten – anders als bei Asylsuchenden also die gesamten Kosten der Aufnahme übernehmen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB) rechnet mit Ausgaben von 1.000 bis 1.500 Euro pro Aufgenommene_n je Monat.
Tatsächlich einigten sich Bund und Länder bei der Ministerpräsidentenkonferenz am 7. April auf eine Regelung, die diese Forderung zumindest teilweise erfüllt: Wie anerkannte Asylsuchende sollen Geflüchtete aus der Ukraine keine Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sondern nach dem Sozialgesetzbuch II/XII („Hartz IV“) erhalten. Damit verbunden ist der Zugang etwa zur Betreuung durch die Jobcenter und zu Sprachkursen.
Für SGB-Leistungen zahlt der Bund. Voraussetzung dafür soll eine Registrierung im Ausländerzentralregister und ein deshalb ausgestellter Aufenthaltstitel sein. Zudem bekommen die Kommunen vom Bund insgesamt zwei Milliarden Euro, unter anderem für Unterkunft und Kinderbetreuung. Der DStGB verlangte eine rasche Auszahlung der versprochenen Gelder. Die Länder müssten die Mittel unverzüglich an die Kommunen weiterreichen. Es sei schon jetzt absehbar und für die Planungssicherheit der Kommunen unverzichtbar, dass Mittel auch 2023 bereitgestellt werden, so der DStGB. Darüber wollen Bund und Länder aber erst im November entscheiden.
Vor besonderen Schwierigkeiten stehen derweil Erziehende und Lehrkräfte, die den Krieg in der Ukraine thematisieren und eine große Zahl Geflüchteter aus der Ukraine in den Schul- und Kitabetrieb aufnehmen müssen. Die Kultusministerkonferenz rechnet allein mit bis zu 400.000 geflüchteten ukrainischen Schülern. „Der Krieg und seine Folgen stellen auch das Bildungssystem in Deutschland vor neue, sehr große Herausforderungen”, sagt die GEW-Vorsitzende Maike Finnern. Der Vorschlag der ukrainischen Generalkonsulin in Hamburg, ein paralleles ukrainisches Schulsystem in Deutschland einzurichten, sei „nicht zu erfüllen“, sagt Finnern. Dieser Wunsch gehe von der Annahme aus, dass die Menschen bald zurückgehen werden. Das sei nicht abzusehen. Bund und die Länder müssten stattdessen Bedingungen schaffen, die die Integration der ukrainischen Geflüchteten in das deutsche Schulsystem sowohl für die Schüler_innen als auch für die Beschäftigten erleichtern. Ohne Unterstützung könne diese Aufgabe nach kräftezehrenden Pandemie-Jahren und vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels nicht geschultert werden. Mehr Geld müsse her, um den steigenden Personalbedarf zu decken. Hinzukomme: Die Geflüchteten haben vor ihrer Ankunft in Deutschland oft schwere Traumata erlitten. Bildungseinrichtungen müssten die Sozialarbeit ausbauen und Angebote zur Traumatabewältigung schaffen, sagte Finnern. Zwei neue Infoblätter der GEW geben eine Hilfestellung, Kinder und Jugendliche im Umgang mit Desinformation im Kontext des Krieges zu stärken (siehe unten).
Die Volkshochschulen sind bereits aktiv geworden. Sie haben bundesweit Erstorientierungskurse und niedrigschwellige Deutschkurse für Ukrainer_innen gestartet. Über das digitale vhs-Lernportal (siehe unten) können sie sich online mit der lateinischen Schrift und mit der deutschen Sprache vertraut machen, wann immer es die Alltagssituation gerade zulässt. Sie benötigen dazu nur ein Smartphone und einen Internetzugang. Das Portal umfasst Kurse, in denen Anfänger_innen wie Fortgeschrittene Deutschkenntnisse für Alltag und Beruf erwerben können. Zu den meisten Übungen erhalten die Lernenden ein automatisiertes Feedback.
Gleichzeitig stellt sich auch die Frage nach der mittelfristigen Integration auf dem Arbeitsmarkt. In Niedersachsen etwa werden Ukraine-Flüchtlingen angesichts rund 90.000 freier Stellen gute Chancen auf eine Beschäftigung prognostiziert. Johannes Pfeiffer, Chef der Regionaldirektion Niedersachsen-Bremen der Arbeitsagentur, nennt den Arbeitsmarkt „sehr aufnahmefähig“. Doch die meisten Menschen, die aus der Ukraine fliehen, sind Frauen und Kinder. In Schleswig-Holstein etwa wurden bis zum 6. April gut 12.000 Flüchtlinge ukrainischer Staatsangehörigkeit erfasst. In derselben Zeit registrierten sich in dem Bundesland nur 42 Frauen und 6 Männer aus der Ukraine als arbeitsuchend. „Diese Zahlen zeigen, dass vor allem Frauen, die mit ihren Kindern den russischen Bombenangriffen entkommen sind, verständlicherweise andere Sorgen haben, als sich rasch eine Arbeitsstelle zu suchen oder einen Sprachkurs zu belegen“, sagte Wirtschaftsstaatssekretär Thilo Rohlfs.
Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung verfügen rund die Hälfte der ukrainischen Migrant_innen in Deutschland über eine abgeschlossene Hochschulausbildung und vergleichbare Abschlüsse, 14 Prozent über berufsbildende Abschlüsse und 26 Prozent über eine höhere Schulbildung. Der DGB fordert, sie möglichst unkompliziert und schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Erste betriebliche Initiativen dazu gibt es bereits. In Brandenburg etwa hat die Lausitz Klinik Forst speziell für geflüchtete ukrainische Pflegekräfte ein Qualifizierungsprogramm gestartet. Ziel sei die Anerkennung des gleichwertigen Berufsabschlusses „Pflegefachmann/Pflegefachfrau“ in Deutschland, um auch weiterhin in diesem Beruf arbeiten zu können. Anfang April startete der erste Kurs mit acht Teilnehmerinnen, weitere 14 Teilnehmerinnen sollen folgen.
Die NGG rief derweil noch in Russland tätige deutsche Unternehmen dazu auf, ihr Engagement in dem Land „sehr kritisch“ zu prüfen. „Wirtschaftliche Interessen und Nöte können nur ein Teil dieser Prüfung sein“, sagte ein NGG-Sprecher der DPA. Für die deutschen Unternehmen sollte es jetzt darum gehen, das deutliche Zeichen zu setzen, dass der Angriff auf die Ukraine und das verbrecherische Handeln der russischen Regierung nicht unbeantwortet bleibe. „Diese Botschaft kann auch von russischen Supermarktregalen ausgehen“, hieß es bei der NGG. In den vergangenen Wochen war etwa der Schokoladenhersteller Ritter Sport scharf dafür kritisiert worden, weiter Schokolade nach Russland zu liefern.
In Österreich startete der Gewerkschaftsbund ÖGB eine Hilfsaktion und schickte Konvois mit Tonnen von Decken, Betten, Heizstrahlern, Medikamenten und Lebensmitteln in die Ukraine. „Wir wissen nicht, wie es weitergeht, was morgen passieren wird“, sagte Larysa Rovchak, Organisationschefin des ukrainischen Gewerkschaftsbundes FPU, „aber eines zeichnet sich ab: Wir brauchen mit jedem Tag mehr Unterstützung“. Die Versorgung des Landes breche zusammen, aktuell zeichne sich vor allem auch ein Engpass an Medikamenten ab: „Jetzt fehlen vor allem Blutdruckmedikamente, Antibiotika und Beruhigungsmittel.“
Der DGB hat mit dem Verein „Gewerkschaften helfen e.V. “ ein Spendenkonto unter dem Stichwort „Gewerkschaftliche Ukraine-Hilfe“ eingerichtet.
Fragen und Antworten zu aktuellen Regelungen und zur Arbeitsmarktintegration auf der Seite des DGB
Ukraine-Resolution des ver.di-Gewerkschaftsrates
Materialien GEW
Spendensammlung DGB
VHS-Lernportal Ukraine
Entnommen aus Forum Migration Mai 2022