
Ohne Vielfalt kein Erfolg
Das neue DGB Vorstandsmitglied Anja Piel über Repräsentation, rechte Gewerkschafter_innen und die Pläne der Bundesregierung für mehr Arbeitsschutz in den Schlachthöfen.
Forum Migration: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will Werkverträge in der Fleischindustrie verbieten. Hat er bei diesen Plänen die Gewerkschaften hinter sich?
Anja Piel: Grund für unwürdige Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie sowie für den mangelnden Arbeits- und Gesundheitsschutz sind die Substrukturen bei der Beschäftigung, vor allem von osteuropäischen Arbeitnehmer_innen. Daher unterstützen wir den Bundesarbeitsminister beim Verbot von Werkverträgen im Kernbereich der Schlachtindustrie.
Die miesen Arbeitsbedingungen migrantischer Beschäftigter, etwa in der Agrar-, Fleisch- und Logistikbranche, sind seit Langem Gegenstand gewerkschaftlicher Kämpfe. Tut der DGB genug, um ausbeuterische Praktiken zu bekämpfen?
Die DGB Beratungsstelle Faire Mobilität unterstützt jährlich mehr, rund 7.000 Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa, aktuell auch durch eine Hotline. Wir sind überzeugt davon, dass sich die Bedingungen weiter verbessern müssen. Dazu gehören, das neben dem Verbot der Werkverträge auch die Gewährleistung des Infektionsschutzes durch die Schlachtbetriebe. Die Kontrollen müssen ausgebaut werden, das ist Aufgabe der Länder und des Zolls.
Der Mangel an Arbeitskräften hat die Migrationspolitik der letzten Jahre mitgeprägt. Wird es nach Corona weiter einen Arbeitskräftemangel geben?
Wir sehen nach der Krise weiter die Notwendigkeit für Qualifizierung und Arbeitsmarktchancen für Migrant_innen. Wenn Betriebe über Arbeitskräftemangel klagen, müssen sie sich fragen, ob sie die Arbeitsbedingungen verbessern müssen. Vielfalt ist eine Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg und deshalb müssen wir die Freizügigkeit in Europa erweitern und auch Arbeitskräften aus Drittstaaten die Möglichkeit zur Einwanderung geben.
Nach Corona dürften die Rechten versuchen, Migrant_innen die Schuld an sozialen Schieflagen zu geben. Wie kann der DGB hier politisch intervenieren?
Klar ist, dass das ein weiteres Versatzstück in der Argumentation der extremen Rechten wird, wenn wir wirtschaftlich in andere Zeiten steuern. Das zeichnet sich bereits jetzt ab, etwa wenn Bill Gates heute die Schuld an Corona gegeben wird, ähnlich wie vor Kurzem George Soros die Schuld an der Flüchtlingszuwanderung gegeben wurde. Wir müssen Aufklärung dagegensetzen und klarmachen, dass Menschen auf der Flucht nicht schuld sind an Arbeitslosigkeit. Zum zyklischen Abschwung kommt nun die historisch einmalige Situation der Coronakrise. Wir fordern ein groß angelegtes Konjunkturprogramm, das würde Wirtschaft und Arbeitsmarkt stärken. Innerhalb des Konjunkturprogramms müssen die Kommunen geschützt und gestärkt werden, handlungsfähig sein, auch was die Vergabe von öffentlichen Aufträgen angeht, denn das schafft Arbeitsplätze.
Nach Jahrzehnten der Diskussion gibt es seit dem 1. März 2020 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Ein Fortschritt?
Aus meiner Sicht schafft es mehr Möglichkeiten für den Aufenthalt von Erwerbstätigen mit abgeschlossener Berufs- oder Hochschulausbildung und gleichzeitig viele neue Hürden für die Zuwanderung. Zudem behindert das Gesetz weiterhin Möglichkeiten zur Durchsetzung von Arbeitnehmer_innenrechten. Die Bundesregierung rechnet mit 25.000 Personen, die auf Grundlage des Gesetzes pro Jahr nach Deutschland kommen. Ein Problem liegt bei den beruflichen und sprachlichen Hürden. Wir sind sehr dafür, dass Menschen in Deutschland sich verständigen können. Die Verlagerung der Deutschkurse ins Ausland und die Anforderung bereits vorhandener Sprachkenntnisse ist der falsche Weg. Wir setzen auf Vermittlungsvereinbarungen mit afrikanischen Ländern, über die Erwerbstätige kommen können. Und wir wollen, dass Migranten, die mehrere Jahre hintereinander beispielsweise für eine Saisonarbeit kommen, eine Aufenthaltsperspektive erhalten.
In Südosteuropa gibt es einen regelrechten Exodus junger Menschen. Wie kann Deutschland seiner Verantwortung für dessen Folgen gerecht werden, wenn es auf Anwerbung von Arbeitskräften setzt?
Zuwanderung muss immer in Absprache mit den Herkunftsländern stattfinden, im besten Fall durch gemeinsam vereinbarte Vermittlungen, die den beteiligten Ländern die Möglichkeiten gibt, zu steuern. Sonst kommt es dort zu einem Mangel an Fachkräften, die beispielsweise dringend im Gesundheitswesen gebraucht werden.
Der DGB hat gefordert, Geflüchteten den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Wie lässt sich hier politisch ansetzen?
Der größte Irrsinn ist meiner Meinung nach, wenn die Länder junge Leute aus der Ausbildung heraus abschieben. Das muss ein Ende haben. Es kann keinen Sinn machen, die abzuschieben und dann andere im Ausland abzuwerben. Im Zuwanderungsgesetz fehlt ein Spurwechsel, der Geduldeten und Menschen mit befristetem Aufenthalt eine gesicherte Perspektive gibt. Das ist eine ganz alte Forderung, aber es hat sich nicht durchgesetzt.
Migrant_innen in den DGB Gewerkschaften klagen oft, dass sie an der Basis, in der betrieblichen Arbeit, zwar sehr aktiv, in Führungsgremien und bei Delegiertenkonferenzen aber nur schlecht repräsentiert sind. Warum ist das so – und hilft da eine Quote?
Die DGB Gewerkschaften haben rund 650.000 Mitglieder mit Migrationsgeschichte. Diese Vielfalt der Mitglieder spiegelt sich noch nicht in allen Bereichen ausreichend wider. Es braucht – wie für andere Gruppen auch – eine stärkere Akzeptanz für Unterschiede und verschiedene Bedingungen für eine erfolgreiche Mitarbeit. Mit einer Quote ist das nicht zu lösen.
Warum?
Menschen mit Migrationsgeschichte sind nicht eine homogene Gruppe, sie haben unterschiedliche politische Auffassungen und Interessen. Zudem würde ein Quotensystem, welches dann für viele Gruppen gelten müsste, die Solidarität aller Mitglieder gefährden. Ich setze mich dafür ein, dass die Migrationsgeschichte vieler Gewerkschaftsmitglieder positiv aufgenommen wird. Das führt zu mehr Verständnis und zum Abbau von möglicherweise vorhandenen Vorbehalten.
Migrantische Gruppen in den Gewerkschaften wünschen sich, dass der DGB politisch dafür eintritt, dass in Deutschland lebende Ausländer_innen das volle Wahlrecht bekommen. Wollen Sie sich dafür einsetzen?
Ja. Die Arbeitswelt ist da ein erfolgreiches Beispiel. Alle Beschäftigten, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, haben ein aktives und passives Wahlrecht bei den Betriebs- und Personalratswahlen. Gleiches gilt für die demokratischen Wahlen in den Gewerkschaften.
Die Zustimmung für die AfD unter Gewerkschaftsmitgliedern liegt – leicht – über dem gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt. Woran liegt das?
Die Unterschiede bei der Zustimmung zur AfD sind nur sehr gering: In Sachsen etwa haben 27,5 Prozent für die AfD gestimmt, unter den Gewerkschaftsmitgliedern waren es 27,6 Prozent. In Brandenburg und Thüringen lag der Wert ähnlich knapp über dem Schnitt. Dazu muss man wissen, dass von den Gewerkschaftsmitgliedern rund 66 Prozent Männer sind – und die wählen öfter die AfD als Frauen. Unsere Aktivitäten gegen extrem rechte Ideologien haben daher auch die Gewerkschaftsmitglieder im Blick. In Brandenburg und Sachsen hatten wir es vor allem mit Abstiegsängsten zu tun. In der Lausitz hatten Beschäftigte Angst um ihre Arbeitsplätze in der Braunkohle, auch im rheinischen Braunkohlerevier schnitt die AFD besser ab, als in NRW insgesamt. Grundsätzlich beobachten wir, dass Menschen, die sich ohnmächtig fühlen, zur AfD tendieren. Das sind die, mit denen man noch reden kann. Wer ein geschlossenes und rassistisches Weltbild hat, ist für uns hingegen nicht mehr erreichbar.
Die DGB Führung hat in den vergangenen Jahren keine Zweifel an ihrer Abgrenzung zur AfD gelassen. Trotzdem ist die Affinität zu rechten Positionen an der Basis weiter vorhanden. Was bleibt dagegen zu tun?
Wir haben als DGB in der Vergangenheit diese scharfe Abgrenzung vorgenommen und werden das auch weiterhin tun. Wir werden weiter zeigen, dass die AfD keine Partei der „kleinen Leute“ ist, dass sie alles Mögliche im Schild führt, aber ganz bestimmt nicht die Lösung der Sozialen Frage. Für Beschäftigte ist es eine reine Mogelpackung, was da von der AfD zusammengeschnürt wird. Die eine Fraktion hat vor allem neoliberale und marktradikale Vorstellungen, die andere will eine völkische Abschottung. Für alle DGB Mitgliedsgewerkschaften ist klar, dass wir klare Kante zeigen gegen eine Partei, die Neonazis duldet.
Biografie Anja Piel
Anja Piel, 55, Industriekauffrau und Journalistin, war von 2010 bis 2013 Vorsitzende des Grünen-Landesverbands Niedersachsen und seit 2013 Fraktionsvorsitzende der Grünen im Niedersächsischen Landtag. Am 25. März 2020 schied sie aus dem Landtag aus und wechselte in den DGB Bundesvorstand.