
Mittellos und lahmgelegt
Eine sechsstellige Zahl an LKW-Fahrer_innen in der EU stammt aus der Ukraine. Was bedeutet der Krieg für sie? Und was für ihre russischen Kolleg_innen?
Nach Schätzungen des Bundesverbands Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) stammen rund 100.000 in Deutschland eingesetzte LKW-Fahrer_innen aus der Ukraine. Die meisten arbeiten bei polnischen und litauischen Speditionen und sind in ganz Europa unterwegs. Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft glaubt, dass viele der Männer der Generalmobilmachung Folge leisten. Kurz nach Kriegsbeginn warnte der Verband deshalb davor, dass rund 100.000 Fahrer_innen den Transportunternehmen schon bald nicht mehr zur Verfügung stehen könnten.
„Ganz so schnell geht es nicht“, sagt Anna Weirich, Branchenkoordinatorin Internationaler Straßentransport bei der DGB Beratungsstelle Faire Mobilität in Frankfurt. Schon seit Monaten würden Arbeitgeberverbände und Speditionen sich über Fahrermangel beklagen. „Sehr viele Presseerklärungen dazu nehmen jetzt Bezug auf den Ukraine-Krieg.“ Gleichwohl seien die Auswirkungen des Krieges auf viele der Fahrer_innen erheblich.
Faire Mobilität hat nach Russlands Angriff auf die Ukraine im Raum Dortmund sowie am Fährhafen in Kiel Aktionen durchgeführt, um sich ein Bild über die Lage der ukrainischen Fahrer_innen zu verschaffen. „Es gibt Fahrende, die zurückwollen, um zu kämpfen, andere wollen zurück wegen der Familie“, sagt Weirich. Wiederum andere hätten mit ihren Angehörigen gesprochen und entschieden, weiter LKW zu fahren, um die Familie zu versorgen. Viele der Fahrer_innen wüssten nicht, wie es jetzt für sie weitergeht. „Manche sitzen fest, weil wegen des Krieges keine neuen Aufträge reinkommen“, sagt Weirich. Betroffen seien auch Fahrer_innen aus Russland, die wegen der Sanktionen ihre geladenen Güter nicht ausliefern oder nicht weiterfahren können, weil wirtschaftliche Aktivitäten in Russland und in der Ukraine stillstehen. In Deutschland sei die Zahl der „Gestrandeten“ aber bislang „eher noch nicht so hoch“, so Weirich.
Viele Fahrer_innen bekämen Zahlungsprobleme zu spüren, etwa weil russische Unternehmen Rechnungen nicht mehr begleichen können oder vom Zahlungsverkehr abgeschnitten sind. Das betreffe vor allem russische und belarussische Fahrer_innen. „Deren Bankkarten funktionieren teils nicht“, sagt Weirich. „Aber auch die ukrainische Währung verfällt, der Kurs geht den Bach runter. Wenn die ihr Gehalt nicht in Zloty oder Euro bekommen, ist ihr Lohn nichts mehr wert.“
Auch in der Ukraine seien die Fahrer_innen betroffen. Die Generalmobilmachung traf all jene, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs im Land waren. „Die dürfen das Land jetzt nicht mehr verlassen“, sagt Weirich. Ebenso gebe es Fahrer_innen, etwa aus Rumänien oder Moldau, die die Ukraine nicht verlassen können, etwa weil die Fracht beschlagnahmt wurde.
In der EU drücken die zuletzt stark gestiegenen Sprit-kosten die Margen der Speditionen. Diese geben das an die Fahrer_innen weiter: „Der Druck ist enorm, es auf Verstöße ankommen zu lassen“, sagt Weirich.
Insgesamt sei jedoch die verbreitete Lesart, der Krieg führe zu einem Mangel an LKW-Fahrer_innen eine „sehr reduzierte Sichtweise“, so Weirich. „Die Arbeitsbedingungen in dem Bereich sind extrem schlecht. Die Frage ist doch: Warum will keiner den Job machen? Warum können die Speditionen so wenige motivieren bei ihnen zu arbeiten, die ihren Wohnsitz hier haben?“ sagt sie. Warum könnten die Ukrainer_innen nicht an ihrem Arbeitsort auch formal angestellt zu sein und zwar zu den dort gültigen arbeitsrechtlichen Bedingungen?“ fragt sie. „Das sollte man im Blick behalten.“
https://www.faire-mobilitaet.de
Entnommen aus Forum Migration April 2022