
Migration in der Virus-Krise
Die Corona-Krise trifft Migrant_innen besonders hart. Mobile Beschäftigte, Saisonarbeits- und Pflegekräfte oder LKW-Fahrer_innen werden die großen Verlierer sein, dabei werden ihre Arbeitsrechte ohnehin schon häufig umgangen. Arbeitskräfte, die nicht gebraucht werden, erhalten Kündigungen, zum Teil rechtswidrig. Wegen der Grenzschließungen müssen viele Menschen in ihren Herkunftsländern bleiben. Das reißt enorme Lücken in vielen Branchen. Gleichzeitig fehlt den Beschäftigten der Lohn, den sie in Deutschland verdient hätten.
Rund 300.000 Saisonarbeitskräfte kommen jedes Jahr nach Deutschland, um in der Landwirtschaft zu helfen. Allein im März würden 35.000 von ihnen gebraucht, im Mai rund 85.000. Sie bleiben jetzt zu Hause oder in Grenzkontrollen hängen. Der „Beelitzer Spargelverein“ etwa sagte der DPA, dass weniger als die Hälfte der eigentlich gebuchten etwa 2.300 Spargelstecher – die meisten davon aus Rumänien – bis Ende März anreisen konnten. Versuche, statt auf dem Landweg per Flugzeug von Bukarest nach Deutschland zu reisen, seien gescheitert. Den Arbeitskräften sei nicht abgenommen worden, dass sie zur Ernte nach Deutschland wollten und dort erwartet würden. Versperrt sei auch der Weg mit dem Auto. Die Rumänen würden an der österreichisch-ungarischen Grenze meist nicht durchgelassen. Ende März ordnete Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) dann offiziell an, dass Erntehelfer_innen und Saisonarbeiter_innen wegen der Corona-Krise nicht mehr nach Deutschland einreisen dürfen. Die „bis auf Weiteres“ geltende Regelung betrifft Arbeitskräfte etwa aus Bulgarien, Rumänien und Großbritannien sowie Saisonarbeiter aus den Nachbarländern, zu denen es derzeit wieder Grenzkontrollen gibt.
Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) hatte schon zuvor vorgeschlagen, Asylbewerber_innen ohne Arbeitserlaubnis als Saisonarbeiter_innen in der Landwirtschaft einsetzen zu können. „Der eine oder andere aus sicheren Herkunftsländern wie Albanien, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, aus Nordmazedonien, Montenegro, Serbien oder auch dem Senegal könnte durchaus Interesse an der Arbeit in der Landwirtschaft haben“, schrieb Klöckner laut eines Berichts des Redaktionsnetzwerks Deutschland an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). „Das Arbeitsverbot könnte ja nicht generell, sondern zeitlich befristet aufgehoben werden.“
Die Bundesregierung beschloss derweil, dass Saisonarbeitskräfte, die bereits in Deutschland sind, länger als bisher sozialversicherungsfrei arbeiten dürfen – statt 70 bis zu 115 Tagen. Arbeitnehmer_innen dürfen zum Kurzarbeitergeld jetzt hinzuverdienen – ihr Einkommen wird befristet nicht auf das Kurzarbeitergeld angerechnet. Auch die Hinzuverdienstgrenze in der Alterssicherung der Landwirte wird aufgehoben. Die Gewerkschaften forderten, die Landwirtschaft müsse zur Gewinnung von Arbeitskräften die Löhne erhöhen. „Die Not der Landwirte ist verständlich, aber dies darf jetzt nicht missbraucht werden, um soziale Standards zu schleifen, wie Frau Klöckner es vorschlägt“, sagt dazu das DGB Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. „In der Landwirtschaft rächt sich jetzt, dass das gesamte System seit Jahrzehnten auf Billiglohn, Sozialdumping, unzumutbare Bedingungen und Ausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte ausgelegt ist.“ Die Landwirtschaft müsse für die schwere Arbeit bessere Lohn-, Arbeits- und Unterkunftsbedingungen anbieten, dann ließen sich Arbeitskräfte gewinnen.
Pflegelücke für bis zu 200.000 Menschen droht
Der „Verband für häusliche Betreuung und Pflege e.V.“ (VHBP), rechnet nach „Report Mainz“-Recherchen kurzfristig mit einem Versorgungsnotstand, wenn osteuropäische Betreuungskräfte in Deutschland fehlen. Viele der Pflegekräfte würden wegen der Corona-Krise aus Angst Deutschland verlassen, wenige Osteuropäerinnen kommen derzeit aber als Ersatz nach. Auch Wartezeiten von bis zu 15 Stunden an der Grenze schrecken dem Bericht zufolge viele ab. „Wir rechnen damit, dass ab Ostern 100.000 bis 200.000 Menschen schrittweise nicht mehr versorgt sind, dass sie alleine zuhause bleiben und dass sie dann in Altenheimen oder Kliniken versorgt werden müssen“, sagte ein VHBP-Vertreter Report Mainz. Derzeit sind nach Schätzung des VHBP rund 300.000 osteuropäische Betreuungskräfte in Deutschland tätig. Rund 270.000 arbeiten demnach ohne Sozialversicherung. „Die Betreuungskräfte sind und waren immer schon systemrelevant, und dabei spielt es keine Rolle, ob sie legal oder illegal beschäftigt sind. Sie sind einfach als Personen hier in Deutschland systemrelevant, weil nur sie stabilisieren das Versorgungssystem der Pflegebedürftigkeit“, sagte Pflegeforscher Michael Isfort im „Report Mainz“. Der VHBP fordert eine „Passiermöglichkeit“, damit die Pflegekräfte weiter die Grenze überqueren können. „Das bedeutet eine Registrierungspflicht für diese Betreuungspersonen, damit man weiß, wer kommt.“ Bisher kamen die Betreuungskräfte vor allem mit Bussen. Doch Reisebusfahrten sind derzeit verboten. Deshalb werde laut VHBP der Transport auf Kleinbusse oder Autos mit fünf Personen verlagert. „Gerade die vielen illegalen Betreuungskräfte, die nicht durch Agenturen betreut und transportiert werden, brauchen Fahrten ohne Infektionsrisiko, etwa Einzeltaxis vom Wohnort bis zum Auftragsort, mit Fahrerwechsel an der Grenze“, sagte VHBP-Geschäftsführer Frederic Seebohm.
Ein weiteres Problem: Pflegekräfte und medizinisches Personal werden gerade nicht nur in Deutschland dringend gebraucht – aus Ländern wie Rumänien waren in den vergangenen Jahren viele Pflegekräfte nach Deutschland abgewandert. Sie fehlen dort nun.
Fleischindustrie versucht Krise auszunutzen
Die Fleischindustrie, in der besonders viele Migrant_innen prekär beschäftigt sind, forderte wegen der Corona-Krise eine temporäre Flexibilisierung des Arbeitsrechts: Die Begrenzung der Arbeitszeit auf regulär 8, in Ausnahmen 10 Stunden soll gelockert, Sonntagsarbeitszeit erleichtert werden. „Wozu, könnte man fragen. Die Maximalarbeitszeit wurde ja von großen Teilen der Branche bekanntlich auch bislang eher nur als unverbindliche Empfehlung gesehen“, sagte Szabolcs Sepsi vom DGB Projekt „Faire Mobilität.
Logistikbranche: Osteuropäer fehlen
Auch in der Logistikbranche schlägt die Krise durch. 20 Prozent der rund 500.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigten Fahrer in Deutschland stammt aus dem Ausland, meist aus Polen und anderen Staaten Osteuropas. Und genau die fehlen jetzt: „Bei unseren Subunternehmern fehlen zurzeit etwa 20 Prozent der Fahrer, das sind Osteuropäer, die jetzt bei ihren Familien bleiben wollen“, sagte etwa ein Sprecher des Logistikunternehmens Group7 der DPA. Ein Sprecher des Bundesverbands Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung sagte, es sei wichtig, zu klären, ob sie bei längeren Pausen und einer vorübergehenden Rückkehr zu ihren Familien in ihren Heimatländern in Quarantäne müssten und ob sie zurück über Grenzen an ihre Arbeitsplätze könnten. Die Grenzen innerhalb der EU sind zwar für den Warenverkehr geöffnet, durch Kontrollen mussten LKW-Fahrer aber zwischenzeitlich bis zu zwei Tage warten. Fahrer, die von Italien nach Deutschland wollten, müssten sich verpflichten, in Österreich nicht zu stoppen.
Widerrechtliche Kündigungen
Umgekehrt gibt es Branchen, in denen Arbeitskräfte gerade nicht mehr gebraucht werden. „In vielen Branchen erhalten gerade sehr viele entsandte Beschäftigte ihre Kündigung, es kommt dabei zu massiven Rechtsverstößen“, sagt Michaela Dälken, Leiterin des DGB Kompetenzzentrums Globale Migration und Soziale Sicherheit.
In den sozialen Netzwerken etwa häufen sich Berichte über Versuche von Gastronomiebetrieben, „Auflösungsvereinbarungen“ unterschreiben zu lassen. In der Branche arbeiten insgesamt 2,4 Millionen Menschen, darunter überproportional viele Migrant_innen. Nur 1,1 Millionen der Gastro-Arbeitnehmer_innen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Zwar wurde die Kurzarbeiterregelung ausgeweitet, die Betriebe wollen die Beschäftigten in der Krise aber am liebsten ganz loswerden. „Die Arbeitgeber des Gastgewerbes fordern vom Staat Hilfen in Milliardenhöhe, entziehen sich aber ihrer sozialen Verantwortung und lassen ihre Beschäftigten im Regen stehen“, sagt der stellvertretende NGG Vorsitzende Freddy Adjan.
Ausländische Studierende in Nöten
Auch im Bildungsbereich wird die Krise nicht ohne besondere Folgen für Migrant_innen bleiben. „Viele typische Studi-Jobs, etwa in der Gastronomie, fallen jetzt der Krise zum Opfer“, sagt der GEW Hochschulexperte Andreas Keller. Der Bundesverband ausländischer Studierender fordert einen Fonds für in Not geratene ausländische Studierende sowie den Zugang zu BAföG. Auch der World University Service appelliert an die Bundesregierung und die Landesregierungen, bei ihren Hilfspaketen für die Wirtschaft die entsprechenden Fonds für unverschuldet in Not geratene ausländische Studierende angemessen zu erhöhen. Der Lehrerverband fürchtet, dass wegen der geschlossenen Schulen die „Schere zwischen Schülern mit und ohne Unterstützung von zu Hause weiter aufgehen“ wird. Hiervon dürften insbesondere Kinder von Eltern mit geringen Deutschkenntnissen betroffen sein. Auch der Fachverband Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (FADAF) fürchtet langfristige Schäden für die Sprachvermittlung. Jährlich würden Hunderttausende Deutsch in Deutschland lernen, um hier zu arbeiten oder zu studieren, heißt es in einer Erklärung des Verbands. Oft hätten sie oder ihre Familien ihre Ersparnisse für eine bessere Zukunft in Deutschland investiert. „Sie drohen nun mit leeren Händen dazustehen, da Kurse und Prüfungen sich voraussichtlich um Monate verzögern.“ Von diesen Kursen hängen aber auch bis zu 100.000 Arbeitsplätze von Lehrkräften ab. „Freiberufliche und prekär beschäftigte Lehrkräfte erzielen von heute auf morgen und auf unbestimmte Zeit keine Einnahmen mehr – bei anhaltenden Kosten für Versicherungen und Lebenshaltung“, so der FADAF.
Aktuelle Infos zu Corona und Migration
Hotline des DGB Projekts „Faire Mobilität“ für Beschäftigte aus mittel- und osteuropäischen Ländern, Infos zu Arbeitsrechten in Deutschland während der Corona-Krise
Polnisch: 0800 0005780
Rumänisch: 0800 0005602
Bulgarisch: 0800 1014341
Ungarisch: 0800 0005614
Bosnisch-Kroatisch-Serbisch: 0800 0005776
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FAQ „Corona-Virus und Arbeitsrecht“ des Projekts „Faire Mobilität“: https://bit.ly/2JdtmIj
Infos für Geflüchtete beim IQ Netz/Faire Integration: https://bit.ly/2UJ461P
und dem Flüchtlingsrat: https://fluechtlingsrat-berlin.de
Infos in verschiedenen Sprachen
vom hessischen Ministerium für Soziales und Integration auf Englisch, Polnisch, Dari, Arabisch, Russisch, Kurdisch und Türkisch:
Stand: 29.03.2020