
Mangelware Arbeitskraft
Hunderttausende Arbeitskräfte fehlen heute, Millionen werden es in Zukunft sein. Die Folgen sind dramatisch: Ganze Branchen können schon jetzt nur noch eingeschränkt produzieren, auch grundlegend wichtige Dienstleistungen werden oft nicht mehr erbracht. Die demografische Entwicklung ist dabei eindeutig: Ohne Zuwanderung sind Versorgung und Wirtschaftsleistung, Rente und Pflege in Deutschland in Zukunft stark gefährdet. Weit mehr Arbeitskräfte als heute müssten ins Land kommen. Was will die Ampel tun, was empfehlen Fachleute?
Sei es die Sicherheitskontrolle am Flughafen, der Feinkosthändler Lindner in Hamburg oder das Kinderhospiz Löwenherz im niedersächsischen Syke: Immer mehr Dienstleistungen und Betriebe in Deutschland funktionieren wegen Arbeitskräftemangels nicht oder nur eingeschränkt. Entsprechende Berichte häufen sich in den letzten Wochen. Im Juli 2022 meldete das Statistische Bundesamt 880.543 offene Stellen – ein Plus von 18,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat und sogar 53 Prozent mehr als im Juli 2020. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) meldete im ersten Quartal 2022 gar bundesweit rund 1,74 Millionen unbesetzte Stellen. Und durch die demografische Entwicklung nimmt nach Angaben der BA die Zahl der potenziellen Arbeitskräfte im typischen Berufsalter derzeit um etwa 150.000 ab, in den kommenden Jahren werde es noch „viel dramatischer“, so kürzlich BA-Direktor Detlef Scheele.
Der Anteil der Unternehmen mit unbesetzten Stellen stieg derweil von 2020 auf 2021 nach Angaben des Deutschen Industrie- und Handelskammertages von 32 auf 51 Prozent. Im vergangenen Jahr blieben zudem 63.176 Ausbildungsplätze unbesetzt. Das waren 5,4 Prozent mehr als im Vorjahr, dabei hatte nach Angaben des Bundesinstitutes für Berufsbildung (BIBB) schon in den Jahren 2020 und 2019 die Zahl der unbesetzten Lehrstellen zugenommen. „Wo heute die Auszubildenden fehlen, fehlen morgen die Fachkräfte“, sagte der BIBB-Präsident Friedrich Hubert Esser der Handwerks-Zeitung. Die gesellschaftlichen Ziele in Bereichen wie der digitalen und ökologischen Transformation seien so nicht zu erreichen. Auch bei grundlegenden Dienstleistungen wird es immer enger: Zu den Berufen mit den größten Fachkräftelücken zählt laut einer im Juli 2022 veröffentlichten Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft Sozialarbeit und Sozialpädagogik, gefolgt von Kinderbetreuung und Erziehung, Altenpflege, Bauelektrik und Gesundheit und Krankenpflege.
Ein Grund ist das Geld: Im Schnitt lag 2020 das mittlere Einkommen für sozialversicherungspflichtig vollzeitbeschäftigte Fachkräfte bei 3.052 Euro brutto im Monat. 2020 fragte die Linken-Bundestagsfraktion ab, wie das mittlere Entgelt in den 52 Berufsgattungen liegt, die laut BA Engpässe bei Fachkräften haben. Das Ergebnis: In der Hälfte, 26 Gattungen, wird weniger bezahlt, teils mehrere hundert Euro. „In Berufen mit niedrigen Löhnen möchten offensichtlich zunehmend mehr Menschen nicht arbeiten“, sagte die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion.
Eine im Juli veröffentlichte Umfrage des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung bestätigt das. Demnach sind unattraktive Arbeitsbedingungen für ein Viertel bis ein Drittel der befragten Betriebs- und Personalräte der wichtigste Faktor für die Probleme bei der Stellenbesetzung. Bei fehlendem Personal für einfache Tätigkeiten halten gut 32 Prozent die unattraktiven Konditionen für ausschlaggebend. Bei Schwierigkeiten bei der Besetzung hoch qualifizierter Stellen sagen das knapp 31 Prozent und bei der Gewinnung von Fachkräften mit Berufsausbildung 24 Prozent. Tarifliche Löhne seien einer der Schlüssel gegen den Fachkräftemangel, so DGB Vorstandsmitglied Anja Piel.
Doch klar ist auch: Künftig braucht es mehr qualifizierte internationale Zuwanderung, um den Fachkräftebedarf auch langfristig zu decken. Rund 400.000 Arbeitskräfte müssten nach Schätzungen des Sachverständigenrates Migration netto nach Deutschland kommen – pro Jahr. 2021 kamen netto 329.000 mehr Menschen nach Deutschland als wegzogen. Auf den für Arbeitsmigration vorgesehenen Wegen waren es indes nur wenige. Im August 2022 wurde die BlueCard EU, der wichtigste Aufenthaltstitel für Arbeitsmigrant_innen aus Drittstaaten, 10 Jahre alt. Doch gerade einmal 70.000 Fachkräfte arbeiteten Ende 2021 dank der Blue Card in Deutschland. Vor allem die schwierige Anerkennung der erworbenen Abschlüsse und die Sprach-anforderungen machen eine Einwanderung häufig uninteressant. Und auch das im März 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz hatte nur überschaubare Wirkung: Von März 2020 bis 31. Dezember 2020 haben die deutschen Auslandsvertretungen knapp 30.000 Visa an qualifizierte Fachkräfte und Auszubildende aus Drittstaaten erteilt.
Das ist zu wenig – und kommt nicht von ungefähr, finden Fachleute. Der Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg kritisierte jüngst eine „Abwehrmentalität“ im Konsularbereich des Auswärtigen Amtes und teilweise auch in den Ausländerbehörden. „Ein Hauptproblem ist die Anerkennung der beruflichen Abschlüsse“, so Brücker weiter. Entscheidend seien effizientere Prozesse in der Anwerbung und Betreuung ausländischer Arbeitskräfte in Bewerbungsverfahren. Bei der Anerkennung von Abschlüssen trügen auch Kammern und Verbände große Verantwortung: „Ausbildungssysteme in anderen Ländern sind nicht unbedingt schlechter, sondern anders.“ Brücker sprach sich dafür aus, vorliegende Jobangebote öfter als Qualifikationsnachweis zu werten, sofern gleichzeitig eine Mindestdauer von Studien- oder Ausbildungszeiten dokumentiert sei. „Der eigentliche Test läuft dann auf dem Arbeitsmarkt.“ Geschähe all dies nicht, könnten die Sozialsysteme stärker als befürchtet in Schieflage geraten.
Die Ampel hat das Problem zumindest erkannt. „Die umlagefinanzierte Rente wollen wir durch (...) erwerbs-bezogene und qualifizierte Einwanderung stärken“, heißt es im Koalitionsvertrag. Neben dem kürzlich beschlossenen „Chancen-Aufenthaltsrecht” (siehe Forum Migration 8/22: https://bit.ly/3e1PBDu) will die Ampel im Herbst ein „modernes Zuwanderungsgesetz vorlegen”, wie Arbeitsminister Hubertus Heil Anfang Juli verkündete. Die Einreise und die Anerkennung beruflicher Qualifikationen sollen damit erleichtert werden, Berufserfahrene sollen unter bestimmten Bedingungen auch ohne Arbeitsvertrag einreisen dürfen.
Der DGB fordert eine leichtere Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen. Zugewanderte dürften keine „Arbeitnehmende zweiter Klasse sein“, sagte Vorstandsmitglied Anja Piel. Die Koalition müsse die Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen „endlich erleichtern und für faire Vermittlungsbedingungen sorgen“. Zugewanderte müssten außerdem gemäß ihrer Qualifikationen beschäftigt werden, sonst würden wertvolle Potenziale verschenkt (siehe Kommentar auf Seite 4).
Die FDP schlug im August vor, mit dem Zuwanderungsgesetz ein Punktesystem zur Einwanderung nach kanadischem Vorbild einzuführen. „Die kanadischen Erfahrungen zeigen, dass mehr als 60 Prozent der Einwanderer über diesen Weg gewonnen werden“, sagte Parteivize Johannes Vogel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. So soll auch ohne die Aussicht auf eine konkrete Arbeitsstelle eine Einwanderungsmöglichkeit erteilt werden. Dies wird im deutschen Einwanderungsrecht bisher im Regelfall verlangt. „Zu einem modernen Fachkräfteeinwanderungsrecht gehören beide Säulen”, sagte Vogel. Anders sei die notwendige Zuwanderung nicht zu erreichen. Punkte gibt es in Kanada unter anderem für hohen Bildungsstand, geringes Alter und gute Sprachkenntnisse.
Fünf Schritte gegen den Fachkräftemangel – DGB Stellungnahme
Entnommen aus Forum Migration September 2022