
Kein Arbeitsvertrag, kein eigenes Zimmer

Magdalena Kossakowska vom polnischen Gewerkschaftsverband (Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych)
Die Expertin des Polnischen Gewerkschaftsverbandes Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych (OPZZ) äußert sich zu den Schwierigkeiten polnischer Pflegekräfte in Deutschland.
„Polnische Pflegekräfte, die nach Deutschland entsandt werden, haben oft schon zu Beginn viele Probleme wegen unklarer und falsch formulierter Verträge. Selten sind sie tatsächlich mit einem Arbeitsvertrag beschäftigt, sondern mit einem Dienstleistungsvertrag. Diese bieten ihnen nicht den gleichen Schutz wie Arbeitsverträge. Stattdessen enthalten die Dienstleistungsverträge für Pflegekräfte in der Regel ungünstige Bestimmungen wie überhöhte Vertragsstrafen. Es gibt auch Fälle, in denen Pflegekräfte nach Deutschland reisen, ohne überhaupt irgendeinen unterschriebenen Vertrag oder eine so genannten A1-Bescheinigung (Bescheinigung, im Herkunftsland sozialversichert zu sein) zu haben.
Nach der Ankunft können die Probleme weitergehen. Es gibt Fälle, in denen sich die zu betreuende Person als aggressiv entpuppt, physische und psychische Gewalt gegen die Pflegekraft anwendet. Es kommt häufig vor, dass die Beschreibung des Gesundheitszustandes der zu betreuenden Person nicht mit dem tatsächlichen Zustand übereinstimmt. Manchmal kommt diese Person nicht mehr selbständig aus dem Bett und benötigt eine qualifizierte Krankenpflege oder Palliativpflege. Manche Unternehmen versuchen dann, Pflegekräfte zu zwingen, krankenpflegerische Tätigkeiten auszuführen, obwohl diese solche nach deutschem Recht nicht ausüben dürfen.
Ein weiteres Thema sind schlechte Wohnbedingungen. Die Pflegekräfte leben meist mit den zu Betreuenden unter einem Dach. Es kommt vor, dass sie kein separates Zimmer zur Verfügung haben oder das Zimmer einen niedrigen Standard hat. In manchen Fällen muss die Pflegekraft gar im selben Zimmer schlafen wie die zu betreuende Person. Unter solchen Bedingungen kann sich die Live-In nicht ausruhen und keine Kraft für die weitere Arbeit sammeln. Die zu betreuende Person kann die Pflegekraft mehrmals in der Nacht aufwecken und sie auffordern, verschiedene Tätigkeiten auszuführen, z.B. ihr beim Toilettengang zu helfen, den Fernseher ein- und auszuschalten oder ihr eine Zigarette anzuzünden. Oftmals weigern sich Unternehmen generell, Pflegekräfte für Nachtarbeit zu bezahlen, auch wenn diese erwartet wird.
Die Bezahlung von Überstunden, die Vergütung von Feiertagen und die Erstattung von Reisekosten sind weitere Probleme. Wir hören in der Beratung oft, dass Pflegekräfte sich über den Mangel an Pausen bei der Arbeit und generell freier Zeit beschweren. Denn durch unbezahlte Überstunden und Pausen arbeiten sie faktisch für viel weniger als den Mindestlohn. Die Unternehmen versichern den deutschen Familien, dass die Pflegekraft 24 Stunden am Tag zur Verfügung stehe, während gleichzeitig die Pflegekraft nur einen Vertrag über eine beispielsweise 40-stündige Wochenarbeitszeit bekommt. Diese unterschiedliche Basis und die damit verbundenen Erwartungen sind oft eine Quelle von Missverständnissen zwischen der Pflegekraft und der zu betreuenden Person. Dazu kommt, dass Pflegekräfte keine Vergütung für die Zeit erhalten, in der sie Bereitschaftsdienst haben. Selbst wenn sie ihre tatsächliche Arbeitszeit gut dokumentieren, ist es teils schwer, von den entsendenden Agenturen eine entsprechende Bezahlung zu erhalten.
Oft stellt sich auch heraus, dass Unternehmen die Sozialversicherungsbeiträge nicht oder in zu geringer Höhe abgeführt haben. Das kann später zu einer geringeren Rente führen.
Während der Pandemie sahen sich die Pflegekräfte mit zusätzlichen Problemen konfrontiert. So mussten sie etwa auf eigene Kosten Corona-Tests durchführen oder sich nach der Rückkehr nach Polen in Quarantäne begeben. Manchmal können sie die zweite Impfdosis nicht erhalten, weil sie zu der Zeit in Deutschland sind. Gleichzeitig sind sie laufend in der Gefahr, sich mit dem Coronavirus anzustecken.
Vor diesem Hintergrund hat der polnische Gewerkschaftsbund Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych (OPZZ) 2019 eine Beratungsstelle für Pflegekräfte eingerichtet, die nach Deutschland entsandt werden. Die Beratungsstelle wurde im Rahmen eines zweijährigen Projekts eingerichtet, das von der Europäischen Kommission kofinanziert wird: „Fair working conditions: Access to fair working conditions for posted workers by providing information and cooperation in selected sectors“, das vom DGB Bildungswerk koordiniert wird. Im Rahmen dieses Projekts leistet die OPZZ Rechtsberatung und unterstützt die Pflegekräfte bei der Formulierung ihrer Forderungen gegenüber Unternehmen. Das Projekt wird von den Pflegekräften sehr gut angenommen.
Am 1. Januar 2021 startete die OPZZ das Projekt „Network for Fair Posting“ mit einer Laufzeit bis Juni 2022. An dem Netzwerk sind auch Gewerkschaften aus Deutschland (Koordination), Rumänien (Bau), Kroatien (Bau), Ungarn (Metall) und Slowenien (Transport/LKW-Fahrer) beteiligt, die Beschäftigte in verschiedenen Branchen beraten.
Die OPZZ unterstützt nicht nur polnische Pflegekräfte, die zur Arbeit nach Deutschland gehen, sondern generell alle Arbeitsmigrant_innen, wie Arbeiter_innen, die aus der Ukraine zur Arbeit nach Polen kommen. Darüber hinaus wurde ein Zertifizierungsprogramm für Arbeitsvermittler mit dem Namen „Arbeitnehmerfreundliche Arbeitsvermittlung“ eingeführt. Dieses Zertifizierungsprogramm prüft die Qualität der von den Arbeitsagenturen erbrachten Dienstleistungen, fördert Unternehmen, die sich um hohe Beschäftigungsstandards kümmern, und zeigt, dass sie sich überdurchschnittlich gute Arbeitsbedingungen bemühen.“
Entnommen aus Forum Migration August 2021