
"Kämpfe sind nur gemeinsam zu führen"
Nach sieben Jahren als Leiter verlässt Daniel Weber den Fachbereich Migration des DGB Bildungswerk. Ein Gespräch über Migration als Chance für Gewerkschaften, die richtige Reaktion auf Rassismus in Zeiten des Ukraine-Kriegs und Lehren für Arbeitskämpfe aus der Corona-Pandemie.
ForumMigration: Daniel, Du bist seit 2007 im Gewerkschaftsbereich zur Migrationspolitik aktiv. Damals warnten Gewerkschaftsführer vor Billigkonkurrenz durch die EU-Osterweiterung, heute sind die Gewerkschaften sehr viel offener, was Diversität und Migration angeht. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
Daniel Weber: Die Veränderung, die Du beschreibst, kam nicht durch ein einzelnes Ereignis, sondern durch das dauerhaft sehr hohe Engagement migrantischer Kolleg_innen und Gewerkschafter_innen auch ohne Migrationshintergrund. Das war die Basis, um Informationsarbeit und gewerkschaftliche Positionen weiterzuentwickeln.
Welche Positionen waren das zum Beispiel?
Etwa, dass gemeinsam für eine Sache kämpfen bedeutet, auch die eigene Organisation so aufzustellen, dass sie das kann. Die Positionierungen der Gewerkschaften selbst haben sich gar nicht so stark verschoben, aber die Perspektiven der Migrant_innen wurden viel stärker aufgenommen. Heute engagieren sich in den Gewerkschaften nicht nur sehr viele Kolleg_innen mit Migrationshintergrund ehrenamtlich, sondern sind auch hauptamtlich in verantwortliche Positionen gekommen.
Hatte das konkrete Folgen?
Der Bundeskongress etwa hat Beschlüsse zur besseren Anerkennung von Abschlüssen aus dem Ausland und gegen offene und versteckte Diskriminierung gefällt. Der DGB hat Projekte wie Faire Mobilität, Faire Integration oder „Anerkannt“ zur Förderung der formalen Anerkennung im Ausland erworbener Kompetenzen aufgebaut.
Wie lässt sich die heutige Haltung der Gewerkschaften zur Arbeitsmigration aus Deiner Sicht zusammenfassen?
Nicht Migration an sich führt zur Infragestellung und zum Unterlaufen von sozialen Standards, sondern ihre Gestaltung. Ist diese schlecht, werden erkämpfte Sozialstandards unterminiert. Und man hat viel mehr Kraft, das zu verhindern, wenn man alle in den Kampf einbezieht.
Welche praktischen Konsequenzen für die gewerkschaftliche Arbeit hat diese Erkenntnis?
Etwa Erfolge bei Zulieferern in der Metallindustrie oder in der Fleischindustrie. Diese Kämpfe sind nur gemeinsam mit Zugewanderten zu führen. Ein andere Folge ist eine viel bessere Fähigkeit darauf zu reagieren, wenn neue Gruppen in den Fokus von Diskriminierung und Anfeindungen geraten. Zum Beispiel wenn jetzt viele russischsprachige Kolleg_innen Schwierigkeiten haben und einzelnen gar mündlich gekündigt wird.
... wegen des Ukraine-Kriegs?
Ja, und zwar obwohl sie sich nicht einmal dazu geäußert haben. Da gab es vor Ort sehr schnell Reaktionen der Kolleg_innen. Die wissen heute, was in einem solchen Fall zu tun ist. So war es auch beim anti-asiatischen Rassismus in der Corona-Pandemie. Immer wenn auf solche Weise neue Gruppen in den Fokus geraten, muss aus den Reihen der Gewerkschaften heraus schnell darauf reagiert werden.
Wer genau reagiert auf diese Anfeindungen?
Zunächst sind das meist ehrenamtliche Gewerkschafter_innen im Betrieb. Die nehmen solche Dinge oft sehr schnell wahr. An zweiter Stelle sind es dann Betriebsräte, aber auch DGB Bezirksverantwortliche, die merken, wenn sich bei ihnen im Bezirk etwas tut. Die wissen heute, an wen sie sich wenden können.
Ehrenamtliche Gewerkschafter_innen und Betriebsräte gibt es in den Branchen, in denen viele Migrant_innen beschäftigt sind, oft nicht.
Wir haben uns den Graubereichen immer wieder gewidmet. Dazu gehört ganz wesentlich, in den formellen Kernbelegschaften das Bewusstsein für die Lage der Kolleg_innen etwa beim Subunternehmen im Lager, der Logistik, der Reinigung zu schärfen. Und wir haben als Bildungswerk ganz bewusst geschaut: Wie kommen Beschäftigte im so genannten „Plattform-Kapitalismus“, etwa die Rider bei Gorillaz oder Lieferando ran?
Antirassismus-Fragen haben in dieser Zeit die Dimension eines regelrechten Kulturkampfes bekommen. Was heißt das für gewerkschaftliche Kämpfe gegen Diskriminierung und für die Rechte von Migrant_innen?
Der gewerkschaftliche Spruch: ‚Mach meinen Kumpel nicht an‘, auch wenn der jetzt gegendert gehört, der ist immer noch richtig. Es geht darum, gemeinsam für Sachen zu kämpfen, gemeinsam zu arbeiten und zu leben.
Die Corona-Pandemie hat erneut gezeigt: Migrant_innen sind immer zusätzlich benachteiligt. Was können Gewerkschaften aus dieser Zeit für künftige Auseinandersetzungen lernen?
Während Corona haben wir uns bemüht, innerhalb der Gewerkschaften deutlich zu machen, dass es hier teils eine doppelte Betroffenheit gibt. Gleichzeitig wollten wir, dass Betroffene ihre Rechte kennen und diese einfordern können. Dazu haben wir mehrsprachiges Material und Erklärfilme erstellt. Ein Fokus war dabei etwa die Fleischwirtschaft in NRW. Da gab es ja schreckliche Situationen mit der so genannten Arbeitsquarantäne und auch Todesfälle. Wir haben direkt vor Ort unterstützt und auch Organizing betrieben, also für einen Eintritt in die Gewerkschaft geworben. Dafür wurden auch neue Formen der Mitgliedschaft geschaffen.
Aus der Ukraine dürften nun mehr Menschen nach Deutschland fliehen, als 2015/2016. Welche Lehren sind aus jener Zeit für die Aufnahme der Ukrainer_innen jetzt zu ziehen?
Da man nicht weiß, wie lange die Menschen bleiben, müssen Strukturen frühzeitig so aufgestellt werden, dass Integration, Bildung und Ausbildung gut funktionieren. Ehrenamtliche Netzwerke, die seit vielen Jahren engagiert sind, die sich jetzt wieder an die Bahnhöfe stellen – darauf können wir gut aufbauen. Das Gleiche gilt für gesammelte Erfahrung in den Betrieben. Man weiß heute, wie man Sprachkurse organisiert, wie man mit Unterschieden im Betrieb besser umgeht, welche Schwierigkeiten da kommen.
Entnommen aus Forum Migration April 2022