Ist Solidarität der Schlüssel zur Integration? Kommentar von Dominik Bartsch
Kommentar von Dominik Bartsch, Direktor UNHCR Deutschland
In ganz Deutschland sitzen gerade Menschen auf harten Holzstühlen und lernen Deutsch. Es sind Flüchtlinge und sie hören einen Begriff, der mehr als ein Wort ist: Solidarität. Die Linken verbinden damit Gerechtigkeit, Konservative argwöhnen Umverteilung – sind aber doch zum Teilen bereit. Manch Ostdeutscher denkt an den Missbrauch des Begriffs in der DDR, manch Westdeutscher sieht für Solidarität keine Zukunft in einer individualisierten Gesellschaft.
Und was bedeutet Solidarität, wenn man von all dem nichts weiß? Flüchtlinge kommen nach Deutschland und erleben jedes Gefühl und jede Stimmung, zu der ein Mensch fähig ist: Sympathie und Abneigung, Hilfe und Ignoranz, Liebe und Hass. Sie erleben aber auch Solidarität. Wenn in Umfragen erforscht wird, wie die Deutschen Flüchtlingen gegenüber eingestellt sind, überwiegen die Sympathien immer bei Weitem. Und nach wie vor ist ein Zehntel der Deutschen in der Flüchtlingshilfe aktiv. Jeder Zehnte! Auch das ist Solidarität.
Wenn wir mit Flüchtlingen sprechen, ist ihr wichtigster Wunsch gerade in Erfüllung gegangen: Sie und ihre Familien sind in Sicherheit. Ihr zweiter Wunsch ist: Arbeiten! Für die Familie sorgen! Kein Wunder, ist doch die Arbeit, das Gebrauchtwerden, ein wichtiger Teil der menschlichen Identität, ja der Würde.
Und doch finden viele keinen Job. Zum einen braucht man selbst für einfache Arbeiten gute Sprachkenntnisse. Zum anderen ist der deutsche Arbeitsmarkt zwar gierig, aber zugleich anspruchsvoll. Und welche Chance hat ein Schneider, eine Wäscherin oder ein Schuhmacher in Europa, selbst wenn diese Berufe in Syrien oder im Irak ein Auskommen boten?
Was ist die Antwort? Die Antwort ist die Solidarität der Deutschen, ihre neuen Nachbarn an die Hand zu nehmen, ihnen bei der Integration zu helfen, beim Deutschlernen, beim Verstehen von Arbeitsabläufen, nach Feierabend. Damit aus dem Neuen ein Kollege wird.
Aber die Frage ist berechtigt, ob das überhaupt im Interesse des Arbeitnehmers ist. Kommt da jemand, der für weniger arbeitet? Der mit den hohen Sozialstandards nicht vertraut ist? Ein Lohndrücker?
Nein, diese Angst habe ich nicht. Sicher ist selbst ein deutscher Mindestlohn für viele Menschen auf der Erde schon ein Traumgehalt. Aber der Traum wird zur Illusion, wenn man auch im deutschen Preisumfeld lebt. Und zudem haben zwei Jahrhunderte Arbeitskampf dafür gesorgt, dass das deutsche Sozialsystem auch rechtlich gut abgesichert ist.
Der Hauptpunkt ist aber, dass Deutschland Arbeitskräfte dringend braucht. 1,2 Millionen offene Stellen gibt es derzeit. In zwölf Jahren könnten es laut Wirtschaftswissenschaftlern drei Millionen sein. Schon heute kostet einer Studie zufolge der Fachkräftemangel Deutschland fast einen Prozentpunkt seines Wirtschaftswachstums.
Aber es geht dabei um Fachkräfte und ja, viele Menschen, die bei uns Schutz suchen, sind für deutsche Verhältnisse keine Facharbeiter. Deshalb steht Deutschland jetzt vor einer noch nie dagewesenen Aufgabe: Die Gesellschaft muss ihre neuen Mitglieder aufnehmen, ihnen die nötigen Fähigkeiten mitgeben und sie voll integrieren – gerade auch in den Arbeitsmarkt. Es ist ein Experiment, dieses Wort mag man hier ruhig benutzen, auf das die ganze Welt mit neugierigen Augen schaut. Denn ja, es kann scheitern. Die Zeichen stehen jedoch auf Erfolg. Weil alle Beteiligten letztlich das Gleiche wollen. Und Deutschland hat schon andere Herausforderungen gemeistert, gerade in jüngster Vergangenheit.
Es liegt jetzt an „denen, die schon länger hier leben“ - also den Deutschen –, wie sehr sie den neuen Kollegen die Hand reichen. Und es liegt an diesen Kollegen, mit welchem Engagement sie die neue Heimat annehmen, die fremd und manchmal kalt ist, aber auch Schutz und Sicherheit – auch soziale Sicherheit bietet. Solidarität ist also auch hier der Schlüssel damit alle gewinnen.
Denn wir müssen nicht nur an morgen, sondern auch an übermorgen denken. Deutschland braucht Arbeitskräfte für seine Wirtschaft. Und um sein Sozialsystem zu erhalten. Denn ein Arbeitnehmer finanziert die Rente mit, egal ob er Michael, Mehmet oder Mohammed heißt. Jeder macht mit, weil er will, dass später, wenn er selbst alt ist, jeder mitmacht. Und auch das hat den Namen Solidarität.
Jetzt mag man einwenden, dass das die Solidari-tät in ganz Deutschland voraussetzt. Ich will noch mehr: Solidarität auf der ganzen Welt. Deutschland hat nicht, wie man oft hört, als einziges Land Flüchtlinge aufgenommen. Im Libanon, weit von der Stabilität und Wirtschaftskraft Deutschlands entfernt, ist heute jeder fünfte ein Flüchtling. Deutschland hätte dann 16,17 Millionen aufnehmen müssen. Auch in Uganda gibt es mehr Flüchtlinge. In Deutschland beträgt das Bruttoinlands-produkt pro Kopf knapp 42.000 Dollar im Jahr. In Uganda sind es 638.
Die Vereinten Nationen haben deshalb den Global Compact auf den Weg gebracht. Dieses Vertragswerk soll dafür sorgen, dass zum Beispiel Deutschland nicht alleingelassen wird. Vor allem soll aber den armen Ländern des Südens geholfen werden, in Afrika und im Nahen Osten, wo 84 Prozent der Flüchtlinge leben. Ziel ist es, die Lasten international zu verteilen. Und auch dafür gibt es ein einzelnes Wort: Solidarität.
Dieser Beitrag wurde der Publikation "Forum Migration Juni 2018" entnommen.