
Fachkräfte können nicht reisen
Nicht nur Flüchtlinge, binationale Paare oder ausländische Studierende leiden unter den Corona-Reisebeschränkungen. Schon vor Monaten zeichnete sich ab, dass auch internationale Fachkräfte ausgebremst würden. Die Befürchtungen haben sich bestätigt.
In einem Bericht von Mitte Juli schreiben Forscherinnen des Münchner Ifo-Instituts, das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das eigentlich ab März die Einwanderung von Fachkräften nach Deutschland hätte erleichtern sollen, sei „nun praktisch wirkungslos“.
Von April bis Juni dieses Jahres bekamen 2.353 Fachkräfte aus dem Ausland ein Arbeitsvisum für die Einreise nach Deutschland. Das berichtet der Evangelische Pressedienst (epd) unter Berufung auf das Auswärtige Amt. Im Gesetzgebungsverfahren hatte das Bundesinnenministerium seinerzeit angegeben, es rechne auf Grundlage des neuen Gesetzes mit 50.000 neuen Aufenthaltstiteln zur Ausübung einer Beschäftigung pro Jahr. Das wären pro Quartal rund 12.500 – also etwa sechs mal so viele, wie von April bis Juni tatsächlich ausgestellt wurden. Insgesamt liegt die Zahl der von den deutschen Botschaften erteilten Arbeitsvisa im ganzen ersten Halbjahr 2020 auf dem niedrigsten Stand seit 2015, berichtet der Tagesspiegel. Und da gab es noch kein Fachkräfteeinwanderungsgesetz.
Längst können nicht alle, die ein Visum erhalten, tatsächlich kommen. Von den Corona-Reisebeschränkungen ist Fachpersonal in Gesundheits- und Pflegeberufen, der Gesundheitsforschung sowie in Transport und Warenverkehr zwar ausgenommen. Für andere Berufsgruppen aus vielen Ländern ist der Weg nach Deutschland aber versperrt.
Durch die Corona-Beschränkungen haben ausländische Fachkräfte erst seit einem Beschluss des Bundeskabinetts vom 1. Juli wieder die Chance, mit einem konkreten Jobangebot nach Deutschland einzureisen. Vor diesem Hintergrund können für solche Fälle grundsätzlich wieder Visa erteilt werden. Allerdings können die deutschen Auslandsvertretungen in manchen Ländern nur eingeschränkt oder im Notbetrieb arbeiten.
„Faktisch ist schon bemerkbar, dass Vermittlungen aus dem Ausland zurückgehen“, hatte eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit (BA) bereits im April gesagt. Man könne sicher „davon ausgehen, dass die Anträge zurückgehen, nachdem Visa-stellen, Ausländerbehörden und andere Partner ihre operative Arbeit reduziert haben“, sagte sie damals. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) sieht diese Prognose nun erfüllt. Auch der SVR ist der Ansicht, dass das Fachkräfteeinwanderungsgesetz „bislang weitgehend wirkungslos geblieben“ sei.
Und das liege nicht am Gesetz, sondern an den Auswirkungen der weltweiten Corona-Krise, sagte der stellvertretende Geschäftsführer des SVR, Holger Kolb, dem epd. Vor allem die Nachfrage deutscher Unternehmen nach Fachkräften habe deutlich nachgelassen. „Die Konjunktur steuert mindestens ebenso stark wie das Gesetz die Fachkräfte-Einwanderung“, sagte Kolb. Das zeige sich deutlich an der Automobilbranche. Vor Corona seien Personalabbau und Kurzarbeit bei den Autobauern nicht denkbar gewesen. Jetzt sei die Nachfrage nach Automobilingenieuren eingebrochen. Ein „strukturelles Grundbedürfnis“ nach Fachkräften gibt es für Kolb weiterhin im staatlich regulierten Gesundheitssektor und damit bei den Heil- und Pflegeberufen. Durch Corona habe sich sogar die Nachfrage nach Fachkräften in diesem Bereich verstärkt.
Doch wegen der Corona-Krise ist auch die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte ins Stocken geraten. Corona habe dazu geführt, dass beispielsweise Länder wie Mexiko oder Brasilien jetzt selbst jede medizinische oder pflegerische Fachkraft bräuchten, sagte Daniel Terzenbach von der Bundesagentur dem Handelsblatt. 2019 war Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nach Kosovo, auf die Philippinen und nach Mexiko gereist, um dort Programme für die Anwerbung von Pflegekräften zu initiieren. Doch aufgrund der Pandemie seien die Maßnahmen derzeit auf unbestimmte Zeit unterbrochen, teilte das Gesundheitsministerium der dpa mit. „Ursprünglich war ab dem zweiten Quartal 2020 die Einreise der ersten zusätzlich angeworbenen Pflegefachkräfte vorgesehen.“ Mit rund 1.300 Pflegefachkräften – vor allem von den Philippinen und aus Mexiko – seien Vereinbarungen abgeschlossen worden, weitere befänden sich in Vorbereitung. Nach dem Ende der Pandemie solle eine größere Zahl von internationalen Pflegefachkräften „zeitnah nach Deutschland einreisen und zügig eine Tätigkeit als Pflegefachkraft aufnehmen“ können. Die Pflegewirtschaft rechnet damit, jährlich rund 30.000 Pflegefachkräfte aus dem Ausland gewinnen zu müssen.
Dass das kein Selbstläufer ist, zeigt sich etwa im Land Berlin. Dort ist das Interesse von Ausländer_innen, ihren Abschluss in Deutschland anerkennen zu lassen, zuletzt zurückgegangen. Bei den Ärzt_innen gab es im Berlin im vorigen Jahr 1.341 Anträge, aber nur 355 Approbationen. „Das Prozedere ist kompliziert und dauert lange“, schrieb die Berliner Morgenpost besorgt. „Wir haben nur noch wenig Zeit, um den Wettlauf um die Pflegeprofis nicht komplett zu verlieren.“