
Fachkräfte gewinnen ist kein Hexenwerk

Kommentar von Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes
Deutschland steht vor dem größten Umbau unserer Wirtschaft seit der Industrialisierung. Scheitern kommt nicht infrage, denn die Transformation der Wirtschaft ist die Grundlage für eine gesunde Umwelt und verlässliche Jobperspektiven.
Doch ohne Fachkräfte keine Transformation: 30 Prozent der Erwerbstätigen gehen in den kommenden Jahren in Rente. Arbeitgeber_innen schlagen deswegen immer wieder vor, die Lebensarbeitszeit zu erhöhen – wer nur einen Hammer hat, macht eben aus jedem Problem einen Nagel. Aber Arbeiten bis zum Umfallen ist eine Scheinlösung. Viele erreichen das Rentenalter schon jetzt nicht, werden vorher arbeitslos oder krank. Wir brauchen stattdessen attraktive Aus- und Weiterbildungsangebote, bessere Integration junger Menschen und endlich ein glaubwürdiges Einwanderungsgesetz. Fachkräfte zu gewinnen ist kein Hexenwerk. Man muss die Herausforderung nur ernst nehmen und Lösungen wollen.
Wir können uns Arbeitslosigkeit nicht leisten. Schulabgänger_innen ohne Abschluss sind nicht einfach Ergebnis individuellen Versagens, sondern ein Auftrag an die Gesellschaft, es besser zu machen. Bei der Bildung ist Deutschland immer noch ein Land ungleicher Chancen: Wer aus einer Familie mit Migrationsgeschichte kommt, verlässt die Schule mit größerer Wahrscheinlichkeit ohne Abschluss. Fehlende Sprachkompetenzen und Aufenthaltsstatus sind oft Ursachen für diesen Umstand. Stärker in den Blick nehmen müssen wir aber auch Diskriminierungserfahrungen und deren Auswirkungen auf den Bildungserfolg und berufliche Ambitionen. Jugendliche in Problemlagen mit solchen Erfahrungen haben Unterstützung verdient, durch eine verstetigte Begleitung beim Übergang von der Schule in den Beruf. Wichtig dabei ist, dass Hilfe und Förderung in den Kommunen nahtlos aus einer Hand kommen.
Auch Geflüchtete und Geduldete bleiben viel zu oft ohne berufliche Perspektive. Welcher Arbeitgeber stellt schon jemanden ein, der womöglich bald im Flugzeug zurück in sein Herkunftsland sitzen könnte? Zwar gibt es seit 2019 Verbesserungen im Aufenthaltsgesetz. Die Hürden für eine Beschäftigungs- oder Ausbildungsduldung sind aber immer noch zu hoch, nur wenige Tausend Menschen profitieren überhaupt von diesen Änderungen. Im Koalitionsvertrag hat die jetzige Bundesregierung einen besseren Zugang zu Ausbildung, Beschäftigung und Qualifizierung für Menschen ohne dauerhaften Aufenthaltsstatus versprochen. Dieses Versprechen muss sie einlösen.
In der Corona-Pandemie waren es die Frauen, die beruflich zurückgesteckt haben – wieder. Auch wenn Kitas und Schulen gerade nicht im Lockdown sind: In deutschen Haushalten leisten immer noch die Frauen den Löwinnenanteil der unbezahlten Arbeit. Wer für die ganze Familie kocht, putzt, wäscht, Hausaufgaben betreut oder Angehörige pflegt, arbeitet eben oft in Teilzeit. Die Hans-Böckler-Stiftung spricht sogar von einem Roll-Back bei den Geschlechterrollen durch die Pandemie. Schon viel zu lange dokterten wir in Deutschland an einem funktionierenden, flächendeckenden und qualitativ hochwertigen Angebot herum, Pflege, Erziehungs- und Sozialarbeit sowie Schule für alle bezahlbar sicherzustellen. Mangelnde Ganztagsbetreuung und fehlende Tagespflege für Angehörige, nötigen es mindestens einer Person in der Familie auf, beruflich kürzer zu treten.
Deutschland muss Weiterbildungsrepublik werden. Es muss Unterstützung und passende Angebote für alle geben. Der vom Arbeitsministerium vorgelegte Entwurf für das Bürgergeld verspricht hier Verbesserungen. Zukünftig muss nicht mehr jede Arbeit mit Vorrang vermittelt werden. Mit dem Bürgergeld brauchen Weiterbildungen, die langfristig für bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt sorgen, nicht mehr hinter schneller Arbeitsvermittlung zurückzustehen. In Zukunft wird wichtig sein, Nachschulungen auch auf eingewanderte und geflüchtete Personen mit eingeschränkten Deutschkenntnissen zuzuschneiden. Und die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse muss endlich unbürokratischer und schneller werden.
Für mehr Einwanderung ist es höchste Zeit umzudenken: Wir müssen weg von einer Voraussetzungskultur hin zu einer echten Willkommenskultur. Vermittlung in Arbeit, Unterstützung bei der Wohnungssuche, frühzeitige Hilfen beim Spracherwerb in der Heimat und schnelle Vermittlung von Kita- und Schulplätzen – alles aus einer Hand – sollten Anreize schaffen, dass wir Menschen aus anderen Ländern echte und dauerhafte Perspektiven ermöglichen – weil wir sie brauchen! Dieses Angebot zu vermitteln könnte eine zentrale Einwanderungsbehörde auf Bundesebene leisten und in Zusammenarbeit mit den Kommunen konkret umsetzen.
Deutschlands Wirtschaft lebt von einem hochwertigen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Es ist daher auch ihre Mitverantwortung, die Beschäftigten in der Transformation mitzunehmen und jungen Menschen neue Perspektiven zu bieten. Der „All-Inclusive-Mentalität“ einiger Unternehmen muss Schranken gewiesen werden. Nicht zuletzt auch mit einer umlagefinanzierten Ausbildungsgarantie und mehr individuellen Weiterbildungsrechten der Beschäftigten. Gute Personal- und Betriebsräte wissen, wie das geht. Und deswegen hilft auch mehr Mitbestimmung, Weiterbildungsrepublik zu werden.
Das alles macht deutlich, dass unser Fachkräftemangel eigenverschuldet ist. Inzwischen ist er in allen Branchen so groß, dass wir gleichzeitiges Handeln auf mehreren Ebenen brauchen. Doch das sind alles keine unüberwindbaren Hürden. Es ist eine Frage des politischen Willens und der Bereitschaft, antiquierte Kulturen über Bord zu werfen.
Entnommen aus Forum Migration September 2022