
"Eine absurde Argumentation"
Arbeitsquarantäne für Saisonarbeiter ohne direkte Kontakte zu Infizierten ist ungerechtfertigt, sagt Benjamin Luig von der Initiative Faire Landarbeit/Projekt „Faire Mobilität“ beim Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen.
In Diepholz wurden über 1.000 Erntehelfer_innen fast zwei Wochen mit Infizierten zusammen in Quarantäne gehalten – auch die, die negativ gestet waren und keinen direkten Kontakt zu Infizierten hatten. Durfte der Landkreis das?
Zunächst stellt sich die Frage, ob hier schnell genug reagiert wurde. Die Ausbrüche auf dem Hof waren bekannt und es hat ewig gedauert, bis die Reihentestung eingesetzt hat. Weiterhin müssten die üblichen sozialen Risikostandards gelten – wer war mit wem in Kontakt? – um eine solche Quarantäne zu rechtfertigen. Und besonders problematisch wird das Vorgehen, wenn man bedenkt, dass die Beschäftigten in der Arbeitsquarantäne weiter arbeiten müssen und sich dabei womöglich anstecken. Denn es ist sehr schwierig, nicht zu arbeiten, wenn sie die Miete an die Betriebsleitung weiter zahlen müssen, aber keine Einkünfte haben. Wie schwierig die Situation für sie war, sieht man auch daran, dass sie versucht haben, sich zu wehren. Etwa indem sie den polnischen Konsul gerufen haben.
Ein Teil von ihnen musste weiter am Fließband arbeiten, ohne dass die 1,5 Meter Abstand eingehalten werden konnten. Ist das legal?
Wenn der Arbeitsprozess etwa durch die Art der Maschinen zwingend erfordert, dass der Abstand unterschritten wird, darf die Gruppe nicht größer als 15 Personen sein. Nach Medienberichten arbeiteten bei Thiemann aber Gruppen um die 50 ohne Abstand. Das wäre illegal.
Der Agrarunternehmer Thiermann sagte, seine Beschäftigten seien „hier sicher versorgt“, es entstünden den Beschäftigten „keine Kosten bei Krankheit und sie erhalten eine Lohnfortzahlung”. Was ist von dieser Aussagen angesichts der ausgesetzten Sozialversicherungspflicht zu halten?
Die mit Corona infizierten Beschäftigten haben von Thiermann in der Tat eine Lohnfortzahlung bekommen, die ihm wiederum vom Gesundheitsamt erstattet wurde. Diejenigen Beschäftigten jedoch, die nicht infiziert waren und aufgrund des Risikos nicht arbeiten wollten, haben keinerlei Lohnfortzahlung bekommen. Und: „Sicher versorgt“ heißt hier nur, solange die Menschen dort beschäftigt sind. Wenn das Arbeitsverhältnis beendet wird, gibt es keine Ansprüche mehr. Schließlich ist es möglich, dass die Beschäftigten über eine freiwillige private „Mini-Krankenversicherung“ abgedeckt sind, die speziell für Saisonbeschäftigte entwickelt wurde. Diese deckt aber nur bestimmte Punkte ab, es ist für die Krankenkasse sehr leicht, Kosten anzufechten, etwa wenn es Vorerkrankungen gab. Der Schutz ist nicht vergleichbar mit demjenigen der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Bundesregierung sagt, die Ausweitung der „kurzfristigen Beschäftigung” ohne Sozialversicherung sei „ein Beitrag zur Pandemiebekämpfung”, weil ausländische Saisonarbeitskräfte so länger in den Betrieben bleiben dürfen, was „Personalwechsel und Mobilität reduziert“. Ist da was dran?
Das ist eine absurde Argumentation. Denn erstens ist es nur ein sehr geringer Teil der Beschäftigten, die mehrere Jobs bei veschiedenen Höfen hintereinander haben. Zweitens: Wenn sie jetzt 102 statt 70 Tage ohne Sozialversicherung arbeiten können, kann das ja geradezu ein Anreiz sein, gegebenenfalls für mehrere Betriebe zu arbeiten, falls der erste Arbeitgeber sie nicht über die ganze Dauer beschäftigt. Ich sehe da keine Logik.
Der Bauernverband verweist auf „freiwillige Erntehelferversicherungen”, die rund 96 Prozent der Spargel- und Beerenbetriebe abschlössen. Behebt das das Problem?
Diese Zahl geistert manchmal herum, es würde mich wirklich interessieren, worauf die sich stützt. Für mich ist unklar, wie hoch die Zahl der befragten Betriebe war. Wir jedenfalls haben aus der Beratungspraxis eine Vielzahl von Fällen ohne Krankenversicherung. Vielfach ist den Saisonarbeiter_innen auch selbst gar nicht klar, ob sie versichert sind oder nicht.
Entnommen aus Forum Migration Juni 2021