Porträt Anerkannt: Den Wohlstand teilen
„Mit den Gastarbeitern hatte ich nie viel zu tun“, sagt Annegret Pawlitz. Im dem Unternehmensbereich der Deutschen Bahn, wo sie ihr Berufsleben verbracht hat, gab es wenige Migrant_innen. Heute ist die Gewerkschafterin im Ruhestand Soziallotsin beim "Integration Schiene - Chance plus“-Programm der Deutschen Bahn. Sie unterstützt Geflüchtete während einer zehnmonatigen Vorbereitungsphase für eine Ausbildung bei der DB.
„Gesucht wurden dafür Eisenbahner_innen, die sich in dem Unternehmen und mit den Begriffen auskennen“, sagt Pawlitz. Menschen wie sie: 1971 fing Pawlitz im „mittleren nicht technischen Dienst” an, 1988 trat sie in die Personalvertretung ein. Zwanzig Jahre war sie Vorsitzende des Betriebsrats der DB Fernverkehr, zudem lange Jahre als Gewerkschafterin bei der Eisenbahngewerkschaft EVG aktiv – bis jetzt: Heute ist Pawlitz Bundesvorsitzende der EVG-Senior_innen.
Einmal pro Woche trifft sich ihre Gruppe von fünf Soziallots_innen mit rund einem Dutzend Geflüchteter, überwiegend aus Afghanistan, Iran, Syrien und Eritrea. Um Sprachpraxis soll es bei diesen Treffen gehen. Doch die Schwierigkeiten für die Geflüchteten sind nicht nur sprachlicher Art. „Es gab großes Interesse, über Kultur und viele andere Dinge zu sprechen.” Auch wenn Leistungsbescheide vom Jobcenter kamen, Arztbesuche oder die Wohnungssuche anstanden, waren die Lots_innen gefragt.
Und sie sollten erklären. „Dass es in Deutschland für alles Anträge gibt und man für alles Stempel haben muss, das ist manchmal schwer zu verstehen”, sagt Pawlitz. An dem bis 2022 angelegten gemeinsamen Projekt von EVG, Bahn und Bahnsozialwerk hat Pawlitz vor allem die Zukunftsperspektive überzeugt: „Die Teilnehmer_innen bekommen eine qualifizierte Berufsausbildung und haben Aussicht auf ein gesichertes Einkommen.“ Sie hatten keine einschlägige Vorqualifikation, mussten aber mindestens das Deutsch-Niveau B2 vorweisen. Am Ende können sie eine Ausbildung als Energieanlagenelektroniker_in oder Mechatroniker_in beginnen.
„Um Geflüchtete im Betrieb zu integrieren, können Betriebsräte unglaublich viel leisten. Doch dafür braucht es Freiräume“, sagt Pawlitz . Die Arbeitsverdichtung schränke die Räume für dieses Engagement ein. „Bei der Bahn laufen Tausend Projekte und die Betriebsrät_innen sind oft am Limit.” Freiraum bräuchten auch die Ausbilder_innen, die sich um Geflüchtete intensiver kümmern müssen, als um deutsche Auszubildende – etwa, um mögliche Sprachprobleme auszugleichen. Schließlich seien Teile der Bahn sicherheitsrelevante Bereiche. „Da muss am Ende natürlich alles sitzen.“
Die Integrationsarbeit sei wichtig, nicht nur für die Geflüchteten, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt. Schließlich gebe es das Vorurteil, dass Geflüchtete „gar nicht in den Arbeitsprozess hineinmöchten und alles vom Amt kriegen”, sagt Pawlitz. Je mehr Menschen in den Betrieben integriert werden, desto eher sei es möglich, dieses Vorurteil „durch eigenes Erleben und durch eigenes Sehen” aufzubrechen, sagt Pawlitz. Und das führe „ganz sicher zu einer Veränderung”.
„Ich bin in einer Zeit ohne Krieg und mit unendlichem Wohlstand groß geworden”, sagt sie und findet: Der Politik gehe es heute offensichtlich nicht darum, für den Frieden in der Welt einzustehen, findet Pawlitz. Also wolle sie selbst für Ausgleich sorgen. „Mit meiner Arbeit kann ich etwas von dem großen Glück, meinem Wohlstand, der auf Kosten der Entwicklungsländer geht, zurückgeben.“ In der Arbeit als Soziallotsin könne sie ihre gesamte Erfahrung von vielen Jahren als Betriebsrätin einbringen.
aus Forum Migration August 2019