
Aufnahme aus der Ägäis: Humanität und Härte

Kommentar von Karl Kopp, Europa-Referent von Pro Asyl
Jeder Flieger mit Schutzsuchenden aus Griechenland wird medial begleitet. Zehn Flüchtlinge nach Rom, acht nach Dublin, 25 Kinder nach Lissabon, 24 nach Helsinki ... Bundesinnenminister Horst Seehofer bejubelt nach Ankunft der 83 Schutzsuchenden in Kassel am 24. Juli 2020 die „Europäische Solidarität“. Der stellvertretende griechische Minister für Migrations- und Asylpolitik, Giorgos Koumoutsakos, spricht zeitgleich in Athen von „echter Solidarität“, von einem großartigen EU-Relocationprogramm, also Umverteilungsprogramm, und dankt Deutschland dafür, dass es diesen Kindern und ihren Familien eine neue Chance gibt.
Diese freudigen Bekundungen und zum Teil Inszenierungen der Regierenden beleuchten ein Grundproblem der beschämenden Flüchtlingsaufnahmezahlen aus Griechenland. Ohne die starke Bewegung in Deutschland und Europa mit ihrer Forderung „Flüchtlingsaufnahme aus Griechenland. Jetzt“, „Evacution. Now“ oder #LeaveNoOneBehind hätte sich sicherlich kaum etwas bewegt in Berlin, Brüssel und anderswo. Jedoch: Die bis jetzt willigen elf EU-Mitgliedstaaten plus Schweiz und Norwegen sind nur zu ein bisschen Humanität bereit – 1.600 Minderjährige, insgesamt 3.600 vulnerable, verletzliche Schutzsuchende sollen aus Griechenland aufgenommen werden. Deutschland will lediglich 928 Schutzsuchende aufnehmen. Das kleine Portugal offeriert 1.000 Aufnahmeplätze, davon allein 500 für unbegleitete Minderjährige.
Ansonsten setzen die Willigen mit den unwilligen EU-Staaten darauf, dass der „Hotspot“-Ansatz – die menschenunwürdigen Lager und Haftzentren – im europäischen Asyl-Labor Ägäis erhalten bleiben. Schlimmer noch: Die zynische Abschreckungspolitik auf den griechischen Inseln dient weiterhin als eine Blaupause für ein künftiges Asylrecht in Europa.
Die konservative Nea Dimokratia-Regierung unter Kyriakos Mitsotakis war von Anfang an nicht ambitioniert was die Umverteilung angeht. Mitsotakis setzt auf Härte: mehr Haftlager, mehr Abschiebungen, systematische völkerrechtswidrige Zurückweisungen – Pushbacks – an den Land- und Seegrenzen zur Türkei. Das Asylrecht wurde phasenweise ausgesetzt, tausende anerkannte Flüchtlinge werden momentan obdachlos gemacht. Diese menschenrechtswidrige Flüchtlingspolitik erfährt Rückendeckung aus dem Rest der EU.
Die Syriza-Regierung forderte noch ein europäisches Flüchtlingsaufnahmeprogramm in einer Größenordnung von 20.000, als sich etwa 70.000 Flüchtlinge – heute sind es circa 120.000 – im Land befanden. Die Nea Dimokratia betrieb diesbezüglich ein vergleichsweise zurückhaltendes Lobbying. Seit September 2019 fordert die griechische Regierung eine europäische Verteilung der im Land gestrandeten, allein fliehenden Minderjährigen. Selbst diese Minimalforderung einer Umverteilung – besser Rettung – von knapp 5.000 schutzlosen Kids wird seit fast einem Jahr verschleppt.
In Deutschland gilt der Bundesinnenminister Seehofer als Bremser bei der Aufnahme von Schutzsuchenden aus Griechenland. Im Club der wenigen „Willigen“ in Europa, wird Seehofer jedoch als eine treibende Kraft bei der Aufnahme von Flüchtlingen gesehen. Dies drückt aus, wo wir stehen in Europa – nichts geht mehr im Sinne einer menschenrechtsbasierten Asylpolitik.
Mitte Juli 2020 sitzen noch immer 31.700 Schutzsuchende unter erbärmlichen Bedingungen in den Elendslagern auf den griechischen Inseln fest – davon sind 10.000 Kinder und Jugendliche. Seit dem Lockdown im März hat sich alles weiter verschlimmert. Die Geflüchteten sind dort bis heute isoliert.
Recht anwenden: Da die deutschen Behörden systematisch das Recht auf Einheit der Familie verhindern, sitzen tausende Schutzsuchende mit Angehörigen in Deutschland in Griechenland fest. In den Jahren 2018 und 2019 lehnte das Bundesamt knapp 3.000 Übernahmeersuchen aus Griechenland – zum Großteil aufgrund familiärer Bindungen – ab. Ihre Übernahme ist eine rechtliche Verpflichtung und hätte menschliches Leid gemindert.
Mehr als 150 bundesdeutsche Kommunen haben sich mittlerweile zum „Sicheren Hafen“ erklärt und damit ihre Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, signalisiert. In Thüringen hat das Kabinett am 29. Mai 2020 ein Landesaufnahmeprogramm für 500 Schutzsuchende aus Griechenland beschlossen. In Berlin hat sich der Senat am 16. Juni 2020 auf ein Landesaufnahmeprogramm von 300 Schutzsuchenden aus Griechenland geeinigt. Die Zivilgesellschaft, die Städte und die Kommunen bleiben hartnäckig. Die „Seebrücke“-Bewegung, die Menschenrechtsorganisationen, die Flüchtlingsräte und die vielen anderen Initiativen in Deutschland und Europa werden weiter Druck machen: Niemand darf zurückgelassen werden!
aus Forum Migration August 2020