
Arbeitsmigration und "Wohnmisere" - ein Blick in die Geschichte
Kommentar von Dr. David Templin, Historiker am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück
Im März 2018 berichtete die Hamburger Morgenpost über ein „Horror-Haus“ in der Hansestadt: 158 Menschen mit rumänischen und bulgarischen Pässen lebten auf engstem Raum in einem Gebäude mit verdreckten Toiletten, defekter Gastherme und einer durchschnittlichen Wohnfläche von acht Quadratmetern pro Person. Dabei handelte es sich um keinen Einzelfall. Das belegen zahlreiche Berichte über die Wohnsituation osteuropäischer Arbeitsmigrant_innen in deutschen Großstädten. Blickt man in die Geschichte, scheint sich hier ein Muster zu wiederholen, das bereits das Migrationsregime der so genannten „Gastarbeit“ zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren prägte.
Im Unterschied zur aktuellen EU-Migration waren die Unternehmen damals verpflichtet, für die Unterbringung der angeworbenen Arbeiter_innen zu sorgen. Sie errichteten Wohnheime, zum Teil in Form provisorischer Unterkünfte, etwa Baracken, zum Teil aber auch in Form moderner Neubauten. Vorgeschrieben war zunächst eine Wohnfläche von vier Quadratmetern pro Person, seit 1971 galt ein Wert von acht Quadratmetern. Dies war auch darauf zurückzuführen, dass um 1970 viele Medien die Wohnverhältnisse von Migrant_innen skandalisiert hatten. Berichte über die „Gastarbeiter-Wohnmisere“ häuften sich, wobei immer wieder Probleme wie Überbelegung, mangelnde Hygiene und die Ausnutzung durch skrupellose Vermieter_innen hervorgehoben wurden.
Bei einer behördlichen Überprüfung von hunderten Wohnheimen in Hamburg stellte sich damals heraus, dass knapp 30 Prozent keine ausreichenden Feuerschutzeinrichtungen aufwiesen. Dies war sicher mit ein Grund dafür, dass es seit den 1960er-Jahren zahlreiche Brände in Unterkünften gab, bei denen mehrere Menschen starben. In den frühen 1970er-Jahren verließen Arbeitsmigrant_innen zunehmend die betrieblichen Heime und suchten auf dem privaten Wohnungsmarkt nach einer Wohnung. Anlass hierfür war zumeist der Familiennachzug, der zu einer dauerhafteren Ansiedlung in Deutschland führte. Gleichzeitig hatten private Vermieter_innen aus der Unterbringung vieler Migrant_innen auf engem Raum ein Geschäftsmodell gemacht. Fälle von Mietwucher, der offiziell strafbar war, landeten zwar selten vor Gericht. Doch in der Hälfte aller Mietwucherverfahren ging es um Wohnverhältnisse von Migrant_innen. Mitunter wurde die Notsituation durch betrügerische oder korrupte Vermieter_innen ausgenutzt, die Zimmer doppelt oder nur gegen Schmiergeld vergaben.
Die Notlage von Migrant_innen hing zum einen mit dem Mangel an Wohnraum in vielen deutschen Großstädten zusammen, zum anderen aber auch mit dem Rassismus, dem Migrant_innen aus Südeuropa, der Türkei oder afrikanischen Ländern auf dem privaten Wohnungsmarkt ausgesetzt waren. „Wir fanden lange keine Wohnung. Sahen wir eine, wurden wir abgewiesen, ja rausgeworfen. Sahen wir eine zweite, wurden wir wieder abgewiesen, fanden wir eine dritte, warfen sie uns wieder raus, das Spiel wiederholte sich immer wieder. Die Deutschen wollten uns nicht, sie wollten keine Fremden“, erinnerte sich im Rückblick etwa eine türkische Arbeiterin, die 1959 nach Hamburg gekommen war.
Durch solche Exklusionspraxen waren viele Migrant_innen darauf angewiesen, die Wohnungen zu mieten, die ihnen angeboten wurden – und das waren in den 1970er-Jahren zumeist heruntergekommene Altbauten in Sanierungsgebieten. Mit Blick auf bevorstehende Flächensanierungen, also den Abriss und Neubau ganzer Straßenzüge, zogen junge deutsche Familien tendenziell aus innerstädtischen Vierteln wie Berlin-Kreuzberg oder Hamburg-Ottensen weg. Die Lücke füllten Migrant_innen auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum.
Auch wenn der Ausländeranteil an der Bevölkerung solcher Stadtteile selten mehr als ein Drittel erreichte, galten diese Quartiere nun zunehmend als „Ausländerviertel“. Westdeutsche Medien zeichneten Schreckensszenarien einer drohenden Überfremdung, und immer wieder wurden Vergleiche mit den „Ghettos“ in den USA gezogen. Auf politischer Ebene führte dieser ausgrenzende Diskurs Mitte der 1970er-Jahre zur Einführung von Zuzugssperren, die die weitere Ansiedlung von Migrant_innen, die nicht aus EG-Länder kamen, in bestimmten Städten oder Stadtteilen verhindern sollten. Im Zuge der Debatten um Geflüchtete und der Asylrechtsverschärfungen nach 2015 ist dieses Instrument erneut in mehreren Städten implementiert worden.
Der Blick in die Geschichte macht also deutlich, dass die Benachteiligung von migrantischen Arbeiter_innen auf dem Wohnungsmarkt kein neues Phänomen ist. Gleichzeitig zeigen Beispiele wie die 1971/72 durchgeführten Mietstreiks italienischer Familien in Frankfurt oder die faktische Missachtung der Zuzugssperren durch viele türkische MieterInnen, dass Betroffene sich zur Wehr setzten oder Strategien entwickelten, sich den Zugang zum Recht auf Wohnraum auch gegen Restriktionen zu organisieren.
Aus Forum Migration April 2019