
Arbeit, die krank macht
Sonderausgabe Corona und Saisonarbeitende
Mitten im Infektionsherd – und völlig ungeschützt: Das ist auch in der laufenden Erntesaison die Realität vieler ausländischer Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft. Ein extremer Fall im Landkreis Diepholz zeigt nun, wie sehr Behörden und Agrarindustrie für billigen Spargel auf Entrechtung der Beschäftigten setzen.
Die Bevölkerung sollten sie nicht anstecken, bei den eigenen Kolleg_innen war es augenscheinlich egal. Am 30. April 2021 stellte das Rote Kreuz bei einer Corona-Reihentestung von Beschäftigten auf dem Spargel- und Beerenhof Thiermann in Niedersachsen 87 Covid-19-Infektionen fest. Daraufhin ordnete der Landkreis Diepholz für rund 1.000 Beschäftigte eine „häusliche Absonderung mit Ausnahme der Wahrnehmung der beruflichen Tätigkeit“ an. Diese so genannte „Arbeitsquarantäne“ galt auch für negativ Getestete, unabhängig davon, ob sie im Betrieb mit Infizierten zusammengewohnt oder mit diesen Kontakt hatten. Diese Arbeiter_innen mussten weiter in Mehrbettzimmern zusammenwohnen, wofür der Hof 9,80 Euro pro Tag kassierte. Die meist aus Osteuropa stammenden Beschäftigten durften während der Arbeitsquarantäne auch dann nicht abreisen, wenn sie negativ getestet waren. Die, die trotzdem abreisten, meldete der Spargelbauer der Polizei. Die Beschäftigten waren also eingesperrt und durften nur raus zum Arbeiten. Dabei mussten sie das Risiko tragen, sich bei Kolleg_innen anzustecken. Dieses Risiko wurde nicht nur durch die Unterbringung und Busfahrten zu den Feldern erhöht, sondern auch dadurch, dass es an den Thiermann-Fließbändern teils nicht möglich ist, die 1,5 Meter Sicherheitsabstand einzuhalten. Bis zum 26. Mai infizierten sich so mindestens 141 der 1.011 Beschäftigten. Seit dem 11. Mai gilt die Verfügung nur noch für negativ getestete Personen, die mit infizierten Personen zusammen gewohnt haben oder engen Kontakt hatten.
Die Deutsche Welle (DW) sprach mit polnischen Arbeiterinnen, die am Telefon von der Lage hinter dem verriegelten Tor des Hofs erzählten. „Wir werden wie Sklaven behandelt, nur vom Hotel zur Arbeit gebracht und zurück”, sagte eine von ihnen der DW. Eine andere sprach von Bedingungen „wie im Horrorfilm“. Als Anna Szot von der DGB Beratungsstelle „Faire Mobilität“ am 20. Mai versuchte, vor Ort Kontakt mit den Beschäftigten aufzunehmen, „standen vor allen Unterkünften schwarz gekleidete Securitys, die Häuser bewacht haben“, berichtet sie. Jeder Versuch, Kontakt aufzunehmen, wurde unterbunden: „Es war gar kein Gespräch möglich. Die Leute wurden von den Securitys in die Häuser geschickt.
„Die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern müssen nach der Infektionswelle in Niedersachsen Lösungen entwickeln, um die Beschäftigten noch in dieser Saison besser zu schützen“, sagte DGB Vorstandsmitglied Anja Piel der taz. „Wer unter Quarantäne gestellt wird, muss die Chance haben, sich zu isolieren und darf nicht zur Arbeit verpflichtet werden“, verlangte Piel. „Es ist ein Unding, wenn Menschen unter behördlicher Quarantäne nicht nach dem Infektionsschutzgesetz entschädigt werden, stattdessen arbeiten müssen und dabei keine Möglichkeit haben, sich selbst zu versorgen.“ Arbeitsquarantäne sei auch keine akzeptable Maßnahme für den Infektionsschutz „und muss ein Ende haben“. Sie könne „angesichts der Zustände von Sammelunterkünften, der Enge bei Gemeinschaftstransporten und den fehlenden Abständen bei der Arbeit“ Infektionsketten kaum unterbrechen, zudem fehle die Rechtsgrundlage für diese tiefen Eingriffe in die Grundrechte. Frank Schmidt-Hullmann vom Unterstützungsnetzwerk von Faire Mobilität des DGB, sagte dem Neuen Deutschland: „Die Arbeiter_innen müssen eigentlich von Anfang an in den gleichen Gruppen arbeiten, mit denen sie auch zusammen wohnen. Eine Ansteckung hätte so nur innerhalb einer Gruppe erfolgen können.“ Deshalb, so Schmidt-Hullmann: „Es gibt keinen Grund, nicht Infizierte und negativ Getestete zu isolieren.“
All dies geschah just in jener Erntesaison, in der die Bundesregierung dem Druck der Agrarlobby erneut nachgegeben und die Kranken- und Sozialversicherungspflicht für die ausländischen Erntehelfer_innen erneut aufgeweicht hatte. Schon 2020 hatte der Bund eine Verlängerung der sozialversicherungsfreien Beschäftigung von 70 auf 115 Tage beschlossen. So lange durften Bauern Erntehelfer_innen beschäftigen, ohne sie krankenversichern zu müssen – was den Agrarbetrieben erhebliche Lohnnebenkosten spart. Im April änderte der Bundestag im Schnellverfahren das „Seefischereigesetz“. Rückwirkend ab dem 1. März gilt für 2021 die Befreiung von der Krankenversicherungspflicht für 102 Tage.
Der Jurist Vladimir Bogoeski wies im Verfassungsblog darauf hin, dass die Ausnahmen von der Sozialversicherung eigentlich für Personengruppen geschaffen wurden, die nur kurzfristig ihren Lohn aufbessern wollen und irgendwo anders sozialversichert sind – etwa Studierende. Dies würde auf die Saisonkräfte in der Regel nicht zutreffen. Die Anforderung, dass die kurzfristige Beschäftigung nicht die Hauptbeschäftigung sein darf, sei „oft nicht erfüllt“ so Bogoeski. Ebenso sei die Annahme, dass die Arbeitnehmer „anderweitig in ein soziales Sicherungssystem integriert, unzutreffend“. Aufgrund der großen Lohn- und Lebenskostendiskrepanz zwischen Ost und West erwirtschafteten sie oft „einen erheblichen Teil ihres Jahreseinkommens durch Saisonarbeit”. Oftmals fallen die Saisonkräfte daher durch das Raster und verfügen über keine Krankenversicherung. Darauf angesprochen sagte der Diep-holzer Seniorchef Heinrich Thiermann der lokalen Kreiszeitung, alle Mitarbeitenden seien „hier sicher versorgt, es entstehen den Saisonarbeitskräften keine Kosten bei Krankheit und sie erhalten eine Lohnfortzahlung” (siehe dazu Interview auf Seite 3). Eine der infizierten Frauen sagte hingegen der Deutschen Welle, dass sie auch während der Krankschreibung für die Unterkunft bezahlen muss. Welche Folgen die Aufweichung der Versicherungspflicht haben kann, zeigt ein Fall der Beratungsstelle Faire Mobilität (siehe Text unten).
Die NGOs Brot für die Welt, Amnesty International, das European Center for Constitutional and Human Rights und die Gesellschaft für Freiheitsrechte kritisierten derweil die Aufweichung der Versicherungspflicht scharf. Wegen enger Unterkünfte und fehlender Schutzvorkehrungen seien die Saisonarbeiter_innen einem erhöhten Covid-19-Risiko ausgesetzt. „Da sie für vier Monate ohne Kranken- und Sozialversicherung beschäftigt werden dürfen, ist ihr Recht auf Schutz der Gesundheit gefährdet“, heißt es in einer neuen Broschüre. Durch die Infektionsschutz- und Quarantänebestimmungen sei die Abhängigkeit der Erntehelfer_innen von ihren Arbeitgeber_innen noch stärker geworden.
Im niedersächsischen Landtag setzten die Grünen eine Sondersitzung an. „Es muss damit gerechnet werden, dass es immer wieder zu Ausbrüchen kommt, wenn nicht eingeschritten wird“, sagte die agrarpolitische Sprecherin der Grünen, Miriam Staudte. „Anstatt den schwer arbeitenden Menschen verpflichtend Einzelzimmer zur Verfügung zu stellen, werden hier beim Infektionsschutz weiter beide Augen zugedrückt und die Menschen in Arbeitsquarantäne gezwungen.”
- Stellungnahme DGB
- Broschüre „Menschenrechte als Kompass in und aus der Covid-19-Krise“ von ECCHR u.a.
- „Harvesting Injustice“ im Verfassungsblog
- Deutsche Welle
- Neues Deutschland
- taz
Entnommen aus Forum Migration Juni 2021