
Alles Rassisten? Eine neuartige Maßlosigkeit in der Rassismuskritik: Kommentar von Levent Tezcan
Migrantenkinder melden sich zu Wort. Sie sind gebildet, wortgewandt. Sie wollen den Rassismus anprangern, nicht mehr nur den Rassismus, der von faschistischen Parteien unverblümt propagiert wird; auch nicht den, der noch in Institutionen steckt. Sie wollen ihn aus den entlegensten Ecken der Sprache, Kultur, Erinnerung herauszerren. Sie initiieren #meTwo-Debatten, rufen „Eure Heimat ist unser Albtraum“.
Seit einiger Zeit wird in Deutschland und der Welt heftig über Rassismus diskutiert. Die Debatte scheint dabei auch eine problematische Wendung zu nehmen. Die Rassismus-Kritik führt dann nicht mehr zur Stiftung neuer Solidarität, sondern dient dem Zelebrieren eines affirmierten Opferstatus und droht zur Selbstbestätigung auszuarten. Selbst die Liberalen, gar die Linken, die immer schon ein sicherer Hafen für die Fremden im Lande waren, sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden. Kürzlich sagte in einem Spiegel-Interview die Erziehungswissenschaftlerin DiAngelo, dass sich „mit Liberalen am Schwersten reden“ lasse. Sie würden nicht akzeptieren, dass sie rassistisch sind. Rassismus sei bereits in die Strukturen eingebaut.
Wer nicht Schwarz/PoC ist (und also automatisch ‚Weiß‘), ist demnach unvermeidlich ein Rassist aufgrund seiner privilegierten Geburt. Wenn er es nicht akzeptiert, dann sei das, selbstgewiss schlussfolgert sie, umso mehr ein Beweis für dessen Verdrängung! Rassismus scheint die neue Ursünde zu sein.
Gewappnet mit dem moralischen Panzer des Minderheitenstatus, sind diese neuen Minderheitsvertreter immer schon im Recht, sprechen sie doch aus Diskriminierungserfahrung. Diskriminierungswahrnehmung, diese scheinbar unbestreitbare Erfahrung stattet ihre Sprecher gleich mit dem moralischen Anspruch aus, bereits dadurch Wahrheit zu sein. Die persönliche Wahrnehmung avanciert zum primären Kriterium für Wahrheit.
Der Autor dieser Zeilen hat das ihm qua Geburt bescherte Glück (!), von der Ursünde Rassismus nicht betroffen zu sein. Als Hochschullehrer genieße ich zweifellos viele Privilegien, die die große Mehrheit der Gesellschaft (ob schwarz, weiß oder türkisch) nicht besitzt. Nach der Logik der neuen Rassismuskritiker kann ich aber meinem germanischen Kollegen, einem beschlagenen Soziologen, der sich von einem Drittmittelantrag zum nächsten bis zur Rente durchschlagen muss, jederzeit seine ‚Privilegien‘ vorwerfen und, bei Bedarf, daraus Rassismus ableiten.
Man muss sich die Logik genau vor Augen führen, die hier am Werke ist: Selbst, wenn ich wollte, könnte ich mich dem neuen kulturellen Gebot „Gestehe, wie rassistisch du bist“ nicht unterziehen. Während ‚Weiße‘ nicht keine Rassisten sein können, kann ich gar nicht rassistisch sein. Welch ein Glück? Ich fühle mich ganz und gar diskriminiert, wenn mir die Möglichkeit genommen wird, rassistisch sein zu können. Rassistisch sein zu dürfen, ist und bleibt also ein ‚weißes Privileg‘. Der Guru der Micro-Aggressions-These Derhard Wing Sue wollte es etwa nicht gelten lassen, dass ein ‚weißer‘ Lehrer ebenfalls Opfer von Mikroaggressionen gewesen sein wollte. Wie die Soziologen Campbell und Manning in ihrer Studie ,The rise of victimhood culture. Microaggressions, safe spaces, and the new culture wars‘ angeben, sah er darin einen Missbrauch seines Konzeptes. Werden also politische Positionen nach Herkunft verteilt? Bewegen wir uns dann nicht in gefährlicher Nähe eines zwar nicht rassistischen, wohl aber eines rassischen Denkens?
Dabei sollten wir viel eher um andere Gefahren besorgt sein. Nicht die in ihrer Bedeutung maßlos dramatisierte Frage „Woher kommst du eigentlich?“, die vermeintlich auf den allgegenwärtigen ‚alltäglichen Rassismus‘ hinweise, gefährdet die Demokratie, sondern die faschistischen Gruppen, die überall in Europa im Vormarsch sind.